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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


die er sich neben seiner Praxis zumuthete, mehr als einmal Zeit zu finden gewußt, um die Erlenfuhrt aufzusuchen. Er war durch die paradiesische Gegend gestrichen, heimlich wie ein Dieb, um das schöne Mädchen zu überraschen; er hatte hinter den Uferbäumen in der Nähe des Hauses Schildwache gestanden, auf einer Felskuppe, welche die Gegend beherrschte, stundenlang gelegen, um das helle, modische Sommerkleid zu erspähen, welches sie von jeder Bewohnerin dieses Landaufenthaltes unterscheiden mußte. Alles umsonst.

Fast widerwillig empfand er, wie ein geheimer Zug, eine unruhige Sehnsucht in ihm zunahm, die ihn in ihre Nähe zwang, sehr verschieden von jenem anfänglichen Gefühl beleidigten Stolzes, das Rechenschaft für die demüthigende Enttäuschung, für die plötzliche Entfremdung forderte. Einst, in der Knospenzeit seiner Neigung, hatte er Aehnliches gefühlt, später nie wieder.

Es giebt stolze, selbstbewußte und selbstsüchtige Herrschernaturen unter den Menschen, die nur das lieben, was sie abstößt und was sie nicht zu ihren Füßen zwingen können. Sie bedürfen der Demüthigung, um zu lieben, denn die Liebe fängt mit der Demuth an. War er eine solche Natur? Und geschah es darum, daß jene süße Mischung von Wehmuth und Sehnsucht ihn wieder quälte, wenn er ihr fern war, und daß die Luft in der Erlenfuhrt ihn geheimnißvoll elektrisch berührte, – darum, weil sie ihn verstoßen hatte?

Was ihn in diesem Augenblick gerade zu der abendlichen Wanderung trieb – er hätte es schwerlich zu sagen gewußt. Die Worte Bandmüller’s hatten bewirkt, daß aus dem dumpfen Gewirr ganz anderer Interessen und Ideengänge plötzlich die farbenglänzenden Gestalten der beiden Mädchen vor seiner Phantasie auftauchten und je lebhafter er sie vor sich sah, desto mehr zerfloß das Uebrige in formlosen Nebel. Ihm schwebte eine dunkle Hoffnung vor, daß das lebenslustige junge Mädchen die Freundin in’s Freie locken und außergewöhnlich lange im Freien halten würde.

Sein Herz brannte leise. Hinter ihm ging der Mond auf; als er sich umwandte, sah er ihn wie eine große Goldorange auf dem Berge liegen. Der dunkelnde Höhenzug spiegelte sich schwarz in dem Flusse, nur ein schmaler Streifen Wassers war mit den stillen himmlischen Sternen wie mit Feuerfunken besät. Dann und wann sprang ein Fisch aus der Fluth oder flatterte eine Fledermaus lautlosen Fluges durch seinen Gesichtskreis.

Die Erlenfuhrt, von der die Rede ist, bestand nur aus einigen wenigen Häusern: ein paar Bauernwirthschaften, einem kleinen Hammerwerke, sowie einem sehr primitiv eingerichteten Gasthause. Die wohlhabendste der Bauernwirthschaften war es, in welche die Schwester des Pascha sich zurückgezogen hatte. Die Lage dieser Niederlassung, auf dem rechten Flußufer, war von hohem Reize. Gärten lagen zwischen den Häusern und dem Wasser; die kleine Thalausweitung strotzte von Ueppigkeit. Unterhalb des Ortes unterbrach eine Felspartie den ruhigen Lauf des Flusses; schroffe, ausgewaschene Schiefermassen stiegen an beiden Ufern empor, und in mächtigem Sturze sauste die Wassermenge polternd und zischend in eine ziemlich bedeutende Tiefe nieder, um, aus einem Schaumstrudel auftauchend, sich allmählich zu beruhigen und friedlich weiter zu fließen. Vielklippig ragte es aus dem Falle empor, feuchtglänzend und dunkel starrte das zerrissene Ufergestein, in dessen Klüften sich Moose und Farrnbüschel angesiedelt hatten. Ueber dem Kessel schnitt die kleine Wasserschwalbe durch die Luft und flog der schillernde Eisvogel herüber und hinüber.

Noch weiter unten, wo die Schiefermassen sich in das Thalniveau hinabsenkten, führte eine breite Holzbrücke über den Fluß. Die Chaussee umging die Erlenfuhrt und ihre Felsen und lief am Fuße des steil abfallenden Bergzuges hin, der den Hintergrund des Bildes ausmachte, aber ein Fahrweg zweigte sich nach der Brücke ab und setzte sich auf dem linken Ufer fort, wo er alsbald im dichten Gehölz verschwand. Dort wuchs zwischen dem saftgrünen Buchengebüsch die zartglänzende Stechpalme und rankte das wilde Geisblatt mit den großen, süßduftenden Blüthen. Und wenn die heiße Sommersonne in die Blätter schien, schwärmte und summte es in den Büschen, und die Grasmücken und Finken schlugen, und die Meisen zwitscherten. Sie war eines Besuches wohl werth, diese Landschaft in der Nähe der staubigen, dampfenden, lärmenden Fabrikstadt.

Es war noch heller Tag, als Toni Seyboldt, von Johannes mit den muthigen Apfelschimmeln gefahren, in der Erlenfuhrt anlangte. Der Wagen bog in das Gehöft; die Hunde bellten; die Hähne krähten, und in der Hausthür stand die schöne, ernste Freundin und empfing die kleine Sylphe, die ihr schon aus dem Wagen Kußhände zuwarf.

„Wie Du blaß aussiehst!“ sagte diese besorgt. „Freilich, wenn man solche Dinge erlebt wie Du, wird man in alle Ewigkeit keine Landpomeranze. Ich hoffe, daß Du mich wenigstens durch eine kleine Ritze in Dein Herz sehen läßt, arme Milli. Was mich betrifft, so kannst Du sicher sein, daß ich Dir eine ganze Bibel voll offenbaren werde. Was hast Du denn die ganze Zeit hier getrieben? Hast Du Tauben und Hühner gefüttert?“

Emilie lächelte trübe. „Es giebt hier nicht viel zu thun für mich; ich habe auch nicht viel Zeit für fremde Arbeit gehabt, denn ich hatte mit mir selber genug zu thun. In der letzten Zeit habe ich doch noch eine andere Beschäftigung gehabt; Du wirst sie nicht errathen: ich habe einen Bären gezähmt!“

Toni blickte sie fragend an.

„Ja, staune immerhin! Einen großen, stattlichen blonden Bären, und rauh und ungeleckt war er genug. Er lebt im Wirthshause, wo er sich, wie ich glaube, meinethalben einquartiert hat: mit einem Worte, es ist ein Freund meines Bruders, der mich hier aufgefunden hat und Harro heißt. Du wirst ihn kennen lernen und dann begreifen, daß mir die Zeit hier nicht lang geworden ist. Er ist jetzt zu den Zigeunern in den Wald hinübergegangen, denn Zigeuner haben wir auch hier, und ein hübsches, wunderliches Geschöpf von Zigeunermädchen ist dabei und eine arme Frau, die im Sterben liegt.“

„Ich kenne das Mädchen, wenigstens glaube ich gewiß, daß es die nämliche ist, die mir und –“

„Und?“

„Mir und dem Doctor Urban prophezeit hat,“ schloß Toni und senkte erröthend die Augen. „Wir müssen nachher auch einmal hinüber gehen,“ sagte sie lebhaft hinzu.

„Ich denke, wir gehen erst in das Haus,“ sagte Milli Hornemann abbrechend.

Sie saßen ein halbes Stündchen in der Idylle des Bauernhauses, mit der Besitzerin, einer freundlichen Matrone, plaudernd, welche die städtische Herkunft nicht verleugnete, und sie tranken dazu Milch, die sie mühsam vor den Fliegenschwärmen schützten. Toni erklärte, daß sie mit Johannes und den Pferden bis zum Abende des folgenden Tages Urlaub habe, wenn nicht bis zu diesem Termine noch eine nachträgliche Verlängerungsbewilligung eingetroffen sein werde. Es sei nämlich, wie ihr Papa gesagt habe, den nächsten Tag über nicht geheuer in der Stadt; Johannes behauptete sogar, es werde eine Revolution geben, aber Papa hätte gemeint, das sei gar nicht wahr, es würden nur zwei Volksfeste gefeiert.

„Zwei Volksfeste? Ich weiß nur um eines,“ sprach Milli, und ihre Augen begannen zu glänzen, „bei welchem Karl, mein Bruder, an der Spitze stehen wird.“

„Nein, ganz gewiß zwei, nämlich noch eines, wobei Papa mitwirkt, mit den schwarz-weißen Fahnen der Union. Wenn ich morgen Abend zurückfahren muß, solltest Du mich eigentlich begleiten, Milli. Es giebt Illumination und Feuerwerk zu gleicher Zeit.“

„Einen Augenblick Geduld!“ sagte Milli Hornemann, indem sie hastig aufstand und die Stube verließ. „Eine Revolution – es ist möglich,“ murmelte sie draußen, und ihr Herz klopfte heftig. „Karl vielleicht auf den Barrikaden und alle die tapferen Herzen neben ihm, und ich –!“

Ihr Antlitz verfinsterte sich, und ihre Lippen preßten sich fest aufeinander; sie war auf dem Wege zu dem Kutscher, der im Stalle den Pferden Hafer vorschüttete. Aber wenn sie gehofft hatte, von diesem etwas Bestimmtes zu erfahren, so sah sie sich getäuscht; er kannte nur das Leutegerede, den heftigen Zwiespalt und die Aufregung in der Stadt. Gleichwohl kehrte sie lebhaft bewegt und mit stolzerer Haltung in die Stube zurück, und sie hing mehr ihren Gedanken nach, als daß sie auf das Gespräch Acht gab.

(Fortsetzung folgt.)



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