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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


abzuwarten, öffnete sie eine Tapetenthür und schritt mir voran in ein mit raffinirtestem Luxus und üppiger Coquetterie ausgestattetes Ankleidezimmer, das die Verbindung der beiderseitigen Schlafgemächer des Ehepaares bildete. „Ihr Tabernakel!“ bemerkte sie geringschätzend. Wie ein stiller, allem Weltgetriebe entrückter Tempel lag in träumerischer Ruhe das rosenroth und spitzendurchwobene Zeltgemach da, in dem, einem riesigen Rubin gleich, die Ampel geheimnißvoll magisches Halblicht spendete. Auf dem Teppich, vom Schlummer wahrscheinlich übermannt, lag Blanche, sanft athmend. Die Arme hatte sie unter dem Kopfe verschlungen. Ein weites, weißes Morgenkleid umfloß sie. Sie schlief, schlief fest und friedlich wie ein Kind.

Finster, mit überkreuzten Armen, blickte Sibylle einen Moment auf dieses Bild holdesten Friedens herab. Ihr Fuß hob sich; er trat hart neben dem seidenen Haar vorbei, das sich auf dem Boden ausbreitete; ihr Saum streifte dicht an dem holden Gesichte vorüber.

„Sie schläft; sie kann schlafen,“ grollte sie, und empört wollte sie die Unglückliche emporreißen.

„Gönnen Sie der armen Frau die kurze Ruhe! Der Tag wird fürchterlich für sie anbrechen.“

„Ja,“ sagte sie lakonisch, und dann winkte sie mir, ihr in’s Schlafzimmer zu folgen, dessen Thür sie hinter sich leise einklinkte.

Sie kramte und suchte in fieberhafter Hast darin umher, während ich, an die innere Thür gelehnt, ihr befremdet zusah. Als sie jedoch in rücksichtslosem Vorgehen das Schloß eines Toilettschubfaches durch eine eingeklemmte Scheere zu sprengen versuchte, glaubte ich Einhalt gebieten zu müssen.

„Wie können Sie es wagen!“

Sie hielt meinen Blick standhaft aus.

„Ich will die Ehre meines Herrn retten. Das Gericht soll Nichts finden, was sie compromittiren würde,“ sagte sie, jedes Wort schwer und langsam betonend. „Lassen Sie mich vollenden! Es muß sich irgendwo Etwas finden. Mein Herr hatte keinen Feind, als –“

„Weib, der Haß bringt Sie von Sinnen,“ rief ich empört.

„Ihre Voreingenommenheit,“ erwiderte sie gelassen, „stempelt mich zu einer Feindin jenes schwachen, charakterlosen Geschöpfes, für das ich nur Mitleid empfinde. Herr Professor, Sie sehen natürlich nur, was man Ihnen zu zeigen beliebt, ich aber stand hinter den Coulissen. Wenn Ihnen die Ehre Ihres Freundes und seiner Familie so theuer ist, wie mir die meines verstorbenen Herrn, so lassen Sie mich vollenden!“

Ich zögerte noch, das Instrument, das ich ihren Händen entwunden, ihr zurückzugeben. Meine unschuldige, gute, kleine Blanche eine –. Es war purer Wahnsinn.

„Sie wissen,“ sprach sie weiter, „so genau wie ich, daß er keines natürlichen Todes starb. Fragen Sie sich, wer allein ein Interesse an seinem Ableben hatte! – Ich will Ihnen etwas anvertrauen, was außer mir wohl nur noch der Oberst weiß; denn daß es ihm nicht unbekannt, das hat mir sein angstbeklommenes Gesicht verrathen.“

Sie trat einen Schritt näher; ihr Mund berührte fast mein Ohr, als sie mir geheimnißvoll zuraunte:

„Wissen Sie etwas von Bruno Zukits?“

Ich dachte einen Augenblick nach, dann nickte ich. Der Oberst hatte mir den Namen heute in Verbindung mit Blanche genannt. Es war jener glänzende junge Officier, der schöne Taugenichts, den sie als halbes Kind geliebt hatte. Ich zitterte vor der kommenden Entdeckung.

„Er wurde damals versetzt,“ sagte Sibylle, „jetzt treibt er sich in einer Verkleidung hier umher. Warum tritt er nicht offen auf, wenn er nichts Böses im Schilde führt? Warum hat er Bart und Haar geschoren und nennt sich einen reisenden Maler, der sich hier im Weinberge einschleicht, um Abends“ – sie betonte das Wort ironisch – „Skizzen aufzunehmen? Und weshalb begeistert sie sich für Mondscheinpromenaden und kommt durch den versteckten Gang in ihr Schlafzimmer zurück? Glaubt sie, ich habe keine Augen, die über der Ehre meines Herrn Wache halten?“

„Sie hassen sie tödtlich, Sibylle Unruh?“

„Ich hasse sie nicht,“ sagte sie störrisch, „ich verachte sie.“ Und dann plötzlich brach es stürmisch mit einer Art wildem Enthusiasmus aus ihr hervor, wie ein Strom, der gewaltsam seine Fesseln sprengt: „Ich liebe ihn – ich liebe ihn, so lange ich denken kann, den Großen, Hohen, Edlen. Ich liebte ihn, als ich, ein kleines, niedriggeborenes Mädchen, zu Füßen des ruhmgekrönten Helden saß und athemlosen Mundes den Erzählungen seiner Waffenthaten lauschte. Ich war die Tochter seines Administrators, und wie zu den hohen fernen Sternen habe ich anbetend zu meinem Ideal männlicher Heldenkraft emporgeblickt. – Sie sagen, ich war schön. Was nützten mir diese flüchtigen Reize!? Männer von so hünenhafter Gestalt und eisenfestem Charakter lieben nicht Frauen, wie ich eine bin, die gleichberechtigt neben ihnen im Leben stehen, treue, starke Cameraden in Freud und Leid, die tausend Tode jubelnd für den Geliebten zu sterben bereit sind. Sie brauchen Frauen, die ihnen ein zierliches Spielzeug sind, zarte, schwache, hülflose Kinder, die sie in ihre starke Liebe wie in einen schirmenden Mantel einhüllen und die in ihrer thränenreichen Schwäche den Ahnungslosen zehnmal mehr zügeln und tyrannisiren als wir, die kräftig an ihrer Seite stehen und Demuth durch die höchste Liebe erkennen lassen. – Ich liebe ihn. Ich liebe ihn bis zum Selbstvergessen, bis zur Selbstverleugnung, und ich hätte das Weib gesegnet mit dankbarem Herzen, das ihn wirklich beglückt hätte. Seine erste Frau war eine exotische Pflanze, zart wie ein Hauch, die in unserem Klima dahinsiechte. Fragen Sie seinen alten Diener, ob ich ihr eine treue Pflegerin, eine opfermuthige Freundin gewesen während ihres kurzen Blumenlebens! Die zweite war ein deutsches Gedicht. Ein furchtbares Leiden, das Jeden von ihrem Schmerzenslager verscheuchte, habe ich ihr und ihm Jahre lang tragen helfen. Beide Frauen haben meinen edlen Herrn geliebt, ihm ganz angehört, wenn auch ohne das richtige Verständniß seines hohen vollen Werthes, in ihrer kindisch launenhaften Weise, die ihn nicht ganz beglücken konnte und seiner unwürdig war. Ich habe sie geachtet. Da, im Greisenalter, fällt sein Auge auf jene rosig-weiße Eva, vor der ich ihn mit scharf sehendem Blick vergeblich warnte. Ein Opferlamm, ward sie an den Altar geschleppt – ein Opferlamm, in innerster Seele ihm grollend, trat sie in sein Leben und hat es zerstört mit schwachen kindischen Händen. Noch weiß ich nicht wie – aber wir wollen suchen und werden finden, und dann kann mein Geliebter friedlich in seinem Grabe ruhen. Wie ich ihn an jenem Abend gewarnt, über seiner Ehre zu wachen, so werde ich Sorge tragen, daß sein Sohn den stolzen Namen unbefleckt weiterführen kann.“

Sibylle war erhaben anzuschauen. Ich beugte mich in Bewunderung vor diesem ehrenfesten, schroffen Charakter. Diese Frau war – ein ganzer Mann, möchte ich sagen, wenn es nicht gar zu paradox klänge.

„Und wenn er selbst…?“ wagte ich zögernd einzuwenden.

„Der nicht – nie und nimmermehr!“ sagte sie bestimmt.

Ruhig gab ich ihr die Scheere zurück. Sie arbeitete ein paar Augenblicke an der Schieblade herum, daß ihr der Schweiß vor Anstrengung auf die Stirn trat. Dann ein leises Knacken. Ihre ungestümen Hände rissen das Schubfach mit einem Ruck heraus; hastig wühlten sie darin herum und warfen den Inhalt auf die Lapislazuliplatte des runden Mitteltisches. Parfüms und Puder, Daunenquasten, Schwämme, Salben, Pinsel, Bürsten und was sonst noch zu dem kleinen Toilettenkasten einer eleganten Frau gehören mag, häufte sich hier auf Flaschen und Fläschchen. Die Schieblade schien geleert, und ich seufzte schon erleichtert auf; da tauchen die gierigen Hände noch einmal in die tiefsten Winkel und ziehen zwei sich beinahe gleiche Fläschchen heraus. Sibylle überreichte sie mir mit einem Laut, der beinahe einem Aechzen gleichkam.

Ich entkorke sie, prüfe sie durch den Geruchssinn und indem ich den befeuchteten Finger auf die Zunge lege, sage ich:

„Das nicht – es ist Morphium.“ Ich gebe es ihr zurück. Die andere Flasche zuckt in meinen Fingern.

„Und jene?“ fragt sie mit ahnungsschweren Augen.

„Belladonna!“

Hinter uns rauscht es leise auf. Auf der Schwelle mit schreckensweit geöffneten Augen steht Blanche. Sie sieht wie ein Geist aus.

Als ich aus meiner ersten Betäubung – so möchte ich mein erschrecktes Entsetzen nennen – zu mir kam, stand ich mit einem Sprunge an Blanche’s Seite und wollte, als ihr strenger Richter, sie vollends in’s Zimmer ziehen. Sie widersetzte sich aus Leibeskräften.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_216.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)