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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Es ist ein Unglück, daß der Mann, der Herr Verstand, sich so leicht unter den Pantoffel fügt, wenn das Herz weint und sich in Krämpfen windet; er ist wie alle Männer und kann keine Frauenthränen vertragen. Weißt Du, mein Kind, warum das Herz die Herrschaft nicht haben darf? Ich will es Dir sagen: weil es die höchste Macht über Allem niemals begreifen wird, das ‚Muß‘. Das ist der große König der Welt; das ist Gott selber. Am Nordpol steht ein Eisberg, der in die Wolken ragt; seine Wände sind steil und spiegelglatt, und die Seufzer und Wünsche versuchen alle Tage in Schaaren aufwärts zu klimmen, und heiße Gebete aus angstgepeinigten Herzen quälen sich ab, um das Eis zu schmelzen – Alles umsonst; es geht nicht. Oben thront in ungestörter Ruhe der hehre Gott, die Strahlenkrone blutigen Nordlichtscheins um das Haupt; er hört nichts; er sieht nichts, aber sein Mund murmelt unablässig die strengen Gesetze des Weltlaufes, und wer das Ohr geschärft hat, vernimmt sie, und wer sich unter sie beugt, der ist glücklich. – Glücklich!“ wiederholte sie für sich, und in ihrer Stimme bebte mühsam verhaltene Empfindung. „Das Herz meint immer, es könne allein beglücken, aber es ist ein dummes, gedankenloses Glück, und ein Wort des Allmächtigen auf dem Throne im fernsten Norden schlägt es in Trümmer.“

Toni hatte nachdenklich zugehört und begann wie mechanisch Feldnelken, Scabiosen und Glockenblumen, die in der Nähe standen, zu einem Strauß zusammenzupflücken. „Ich verstehe aus alledem doch nur, daß Du unglücklich bist, arme Milli,“ sagte sie.

Emilie schüttelte langsam den Kopf. „Nicht unglücklich, – nur noch nicht ganz glücklich. Es ist so schwer, das zu werden, besonders für uns Frauen. Ich wollte, ich wäre ein Mann, ein so kraftvoller, willensfreudiger, gewaltiger Mann wie dieser Harro.“ Sie schwieg einen Moment; dann warf sie einen scheuen Seitenblick auf Toni und fragte leichthin: „Bist Du in jüngster Zeit öfter mit Urban zusammengekommen? Wie benimmt er sich denn? Du wirst begreifen, daß er meinem Herzen nicht mit einem Male fremd geworden ist.“

„Ich finde ihn nicht sehr verändert, aber er wird sich wohl etwas verstellen. Ich glaube, er ist doch recht unglücklich. Er möchte gar zu gern noch einmal mit Dir reden.“

„Gott behüte ihn und mich davor!“ sagte Emilie.

Der Friese kam den Weg herauf, den Hut in der Hand und die Stirne mit einem Tuche trocknend. Der wunderliche Zufall hatte ihn wirklich mit der Schwester des Freundes zusammengeführt, und der ruhelose Feuerkopf hatte sich von der Erscheinung des schönen Mädchens an das stille, dürftige Wirthshaus zur Erlenfuhrt binden lassen, da er bei ihr ein so merkwürdiges Verständniß für seine Ideen und Bestrebungen fand. Er war bald der tägliche Gast in dem Bauernhause, das sie beherbergte, und wenn er einmal eine Viertelstunde weit in’s Land gegangen war, dann fühlte er es wie Blei an seinen wanderlustigen Füßen hängen und kehrte tiefsinnig in seine Herberge zurück. „Unsere Sache ist ohnehin noch nicht reif, und die Polizei wird sich auch nicht grämen, wenn ich ihr ein paar Wochen lang aus den Augen gehe,“ so entschuldigte er sich vor sich selber.

Er begrüßte die Mädchen mit Lebhaftigkeit und ließ Emilie kaum Zeit, ihm Toni vorzustellen. „Wissen Sie auch, liebes Fräulein, daß die Alte – sie ist übrigens noch in den Dreißigern – diese Nacht schwerlich überleben wird?“

„Was macht denn die Junge?“ fragte Toni.

„Sie briet eben einen Igel am Spieß und weinte dazu, wie ich wegging. Ich hätte gar nicht geglaubt, daß diese Heiden soviel Gefühl haben.“ Er sagte das ganz ernsthaft.

Man stieg den Berg hinunter. Der Himmel glomm seltsam, und der Rauch quoll schwer und träge aus den Schornsteinen der verstreuten Häuser; das Tosen des Wasserfalles, in welches sich das Zirpen der Grillen fast auflöste, klang deutlich und scharf durch die feuchte Luft. Harro fuhr, sich bückend, mit der Hand über das thauige Moos am Boden und prophezeite Regen.

Vor dem Bauernhause trennte er sich von den Mädchen; er müsse einen langen Brief schreiben, den anderen Tages in der Frühe der Postbote mitnehmen solle. Toni stieß die Freundin heimlich an und erinnerte sie halblaut an die versprochene Kahnfahrt, und der Friese, der die Worte verstanden, ließ sich Auskunft darüber geben, um was es sich handle. Er versprach dann seinerseits, nach etwa anderthalb Stunde an den Fluß zu kommen, wo er die Mädchen erwarten wolle.

Aus der Dämmerung blühte die Nacht auf. Wie ein schwarzer Zaun ragten die Uferweiden vor dem Flusse auf, als die beiden Freundinnen durch den Garten zum Kahne hinunter schritten. Die Nachtigall schlug wirklich in den Büschen des anderen Ufers schmelzend und schmetternd; das Rauschen des Falles klang hier entfernter und sanfter. Glühwürmchen saßen wie Feuerfunken im feuchten Grase, durch das ihr Fuß wandelte.

Toni stieß einen Laut der Ueberraschung aus: „dort ist er,“ sagte sie. „Er ist pünktlich.“

Es war ihr gewesen, als hätte sich zwischen den Weiden etwas bewegt. Aber sie mußte sich wohl getäuscht haben, denn als sie schärfer zusah, konnte sie nichts gewahren, als die dicken, dunklen Weidenstämme, zwischen denen der Fluß im Mondlicht glänzte, und als sie nahe heran kamen, war die Stelle des Ufers, bei welcher der Kahn lag, völlig leer und das Fahrzeug lag träge und unbewegt.

„Wir wollen einsteigen und es uns einstweilen bequem machen,“ meinte Toni halblaut. „Weißt Du auch, daß es mir ordentlich ängstlich zu Muthe ist? Ich bin so wenig an solch eine Einsamkeit gewöhnt.“

Milli Hornemann stieg voraus. „Jetzt werde ich Dich losbinden,“ scherzte Toni und wickelte die klirrende Kette vom Pfahle; „Du sollst einmal zeigen, ob Du wirklich allein den Kahn regieren kannst.“

Plötzlich hielt sie inne; es raschelte neben ihr, und sie vernahm einen festen Schritt. „Ach, Herr Harro, Sie wollten uns überraschen,“ sagte sie, sich aufrichtend, und sie fühlte ihr Herz bis in die Schläfe hinauf klopfen.

Ein Mann stand vor ihr, aber der erste Blick sagte ihr, daß es nicht Harro war. Sie fühlte eine kräftige Hand die ihre erfassen und sah mit einem Male die blitzenden Augen Urban’s dicht vor ihrem Gesicht. „Warten Sie ein Weilchen hier, Fräulein Toni – ich flehe Sie an,“ raunte er in tiefer Erregung. Und blitzschnell sprang er in den Kahn, der heftig schwankend mit dem Paare in das Wasser hinausflog, während die Kette sich mit heftigem Rucke vollends vom Pfahle löste und über den Boden schleifend in’s Wasser fiel.

Alles das war das Werk eines Augenblicks. Toni war mit tiefem Entsetzen in die Kniee gesunken und starrte wie gelähmt auf das Fahrzeug. Ein breiter, krauser, glitzernder Wellenstreif zog sich von demselben bis zum Ufer.

„Mein Gott, nun bin ich ganz allein,“ murmelte sie endlich. „Er läßt nicht von ihr, und ich habe ihn doch so lieb, so lieb.“ Und ihr armes junges Herz zog sich schmerzhaft zusammen, daß sie die Hand auf die Brust drücken mußte, so fest, daß sie meinte, es könne sich gar nichts mehr regen und bewegen in der Brust da drinnen.

Urban ergriff das Ruder und sagte nur: „Guten Abend, Milli!“ Dann nahm er am Ende des Kahnes Platz und begann mit aller Macht zu rudern, daß das Wasser in tiefen Strudeln gurgelte und die funkelnden Tropfen streifenweise in die Luft flogen.

„Heinrich – Herr Doctor –“ stieß das junge Mädchen angstvoll hervor und machte vergebliche Versuche, sich von ihrem Platze zu bewegen, „fahren Sie mich zum Ufer zurück! Was wollen Sie von mir – wer giebt Ihnen das Recht – –?“

Das Geräusch des Wassers und die klatschenden, rasch sich folgenden Ruderschläge verschlangen die Hälfte ihrer Worte; sie schlug endlich die Hände vor das Gesicht und ließ den Gewaltthätigen gewähren. Pfeilschnell schoß das Gefährt bis in die Mitte des Flusses, und hier hielt Urban plötzlich inne, richtete sich mit tiefem Athemzuge auf und blickte, auf das Ruder gestemmt, zu der regungslos zusammengekauerten Mädchengestalt am entgegengesetzten Kahnende hinüber.

„Jetzt bist Du meine Gefangene, Du Schöne, Stolze, Treulose, und kein Gott noch Dämon rettet Dich aus meiner Hand, wenn ich Dich nicht freigebe,“ sagte er mit tiefer Stimme, aus der es wie unterdrücktes Jauchzen klang. „Mein Stern hat mich geführt; der Einfall, heute noch in Dein Patmos zu dringen, ist vom Himmel in meine Seele gefallen wie der Thau, der die Erde netzt, und ich will den glücklichen Augenblick nützen und den letzten Tropfen aus ihm herauspressen. „Vergieb mir, Milli!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_222.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)