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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Ursache ist uns verborgen, was wir selbst in uns erleben? Warum können wir nicht in klare Gedanken fassen, was doch Quelle oder Erfolg unseres eigenen inneren Daseins ist?

Vergegenwärtigen wir uns vor Allem also, was bedeutet es, wenn wir sagen: „das menschliche Herz“? Gegenüber der bloßen Erkenntniß, gegenüber der Gedankenbildung von den Dingen der Natur und der Welt, gegenüber den bloßen Vorstellungen von menschlichen und von ewigen Dingen, bedeutet es den persönlichen Antheil, den wir daran nehmen. Die Seele wäre ein bloßer Spiegel, an welchem die Bilder der Welt vorüberziehen; erst durch das Herz sind wir ein Centrum der Welt, in welches der Strom des Lebens hineingeht, von welchem er wieder hinausströmt. Vielleicht würde unserm Geiste das ganze Universum nur als ein großer Mechanismus von wirkenden Ursachen und deren Erfolgen erscheinen, und unser Geist würde sich befriedigen bei dieser Anschauung, wenn nicht das Herz andere Anforderungen stellte an die Erkenntniß alles dessen, was da ist und lebt. Wir verlangen zur Befriedigung unseres eigenen Herzens und dessen, was wir als ein innerlich Lebendiges im Universum betrachten, daß jeder Seele auch eine Beseligung gegeben sei in den Anschauungen, die sie vom Leben gewinnt, daß nicht blos wirkende Ursachen walten, sondern auch, daß Zwecke erfüllt werden in dem ganzen Getriebe von Ursachen und Wirkungen, Zwecke, welche erst dem Leben Werth und Würde verleihen.

Aber wir empfangen nicht blos Bilder von der Welt, die menschliche Seele schafft sich neue Bildungen zur Bereicherung dessen, was ihr von der Natur und Wirklichkeit dargeboten wird. In mannigfachen Arten regt sich die eigene freie Thätigkeit des menschlichen Geistes; in verschiedenen Formen schafft er neben denen der Natur Gebilde der Kunst. Verschieden ist der Antheil, welchen das Herz an den verschiedenen Künsten nimmt, sowohl in Bezug auf ihren Ursprung, wie in Bezug auf ihren Erfolg, aber die Quelle und das Ziel der Wirkungen aller Künste ist darin eine gemeinsame, daß sie das menschliche Herz auf die eine oder auf die andere Weise befriedigen sollen. „Die Kunst,“ sagt Börne, „wohnt im Herzen.“

Aber nicht die Kunst allein, auch die Art, wie wir unser ganzes, unser geselliges und unser gesellschaftliches Leben aufbauen, ist vollkommen geleitet und erfüllt von den Trieben unseres Herzens; alles, was groß, was edel, was ergreifend und mächtig unter Menschen wirkt, das schreiben wir dem Herzen als seiner letzten Quelle zu. „Das Herz,“ sagen wir, „macht den Redner.“ „Große Gedanken kommen aus dem Herzen“ einzig und allein deshalb, weil durch „Herz“ zugleich dies ausgedrückt wird, daß wir nicht blos ein Bild der Welt empfangen und unseren persönlichen Antheil daran mit Befriedigung oder ihrem Gegentheil wahrnehmen, sondern daß wir uns auch wiederum mit dem so erfüllten und bewegten Gemüthe hingeben, daß unsere Seele offen ist für jede Sache und für jede Seele. Ein Ausfluß dieser Hingebung ist alles, was zum Aufbau und zur Lebensfülle der menschlichen Gesellschaft führt, und darum erweist sich alles, was wir mit dem Namen des Sittlichen belegen, als ein Erfolg des Herzens.

Es ist eine besondere Beziehung, welche zwischen dem Herzen und denjenigen Gebilden des Geistes besteht, die wir als die höchsten achten und die wir, wie Kant sich schon ausdrückt, mit dem „ehrwürdigen“ Namen der Ideen bezeichnen; in dem Herzen ist die Geburtsstätte der Ideen, und ihre höchste Erfüllung finden sie dann erst, wenn sie in ihm wiederum sich als wirksam und heimisch, als persönlich mit ihm verbunden erweisen; wenn die Ideen nicht blos als kalte, als theoretische Vorstellungen dem Geiste gegenüberstehen, wenn die Seele auf’s Tiefste von ihnen ergriffen ist und sie gleichsam persönliche Gestalt in dem Herzen des Menschen gewinnen, dann erfüllt sich, was vergangene Zeiten mit dunkler Symbolik ausdrücken, wenn sie von „Incarnationen“ der Ideen gesprochen haben.

Freilich nicht nur so in positiver Weise, wie wir es bisher bezeichnet haben, sondern auch negativ erfährt das menschliche Herz, daß es Mittelpunkt seiner Welt ist; der Magnetismus des Herzens hat ebenso seinen negativen, wie seinen positive Pol; nicht Anziehung allein, auch Abstoßung erfahren und üben wir im Leben. Die Sprache freilich faßt dies in verschiedener Weise auf; bald nennt sie den Menschen, in welchem so das Abstoßende vorwiegt, einen herzlosen, bald nennt sie ihn eben hartherzig oder kalten Herzens.

Auch über alle endlichen Beziehungen hinaus, welche unser Gemüth bewegen, leitet uns der Gedanke vom Endlichen zum Unendlichen. Aber nur indem das Unendliche mit dem Herzen ergriffen wird, indem die Sehnsucht unseres Herzens uns dahin treibt, hinauszuragen über alles Endliche und Beschränkte, die unendliche Vollkomenheit und die Vollkommenheit des Unendlichen zu erfassen, entsteht im Innern des Menschen die Religion, und mit ihr entstehen die höchsten Formen seines Lebens und Schaffens.

Alle Reize, aller Reichthum und alle Werthe des Lebens sind so die Erfolge dessen, was wir als das Herz im Menschen bezeichnen. Dennoch ist es, beiläufig gesagt, für sich allein kein sicherer Führer durch das Leben; denn neben aller Bereicherung, neben der schöpferischen Fülle der inneren Welt, die ihm entstammt, ist es die Quelle aller Widersprüche, der Ursprung des Widerstreits auch im eigenen Innern, bis hin zu den tragischen Conflicten, welche es allein im Leben schafft.

Dies also, hochverehrte Anwesende, ist der Ihnen Allen bekannte, hier nur flüchtig umschriebene Sinn, welchen das Wort „Herz“ in der Psychologie der Sprache hat. Was bedeutet es denn nun in der Sprache der Psychologie? Was ist denn das, was wir bisher als besondere Function oder als besondere Kraft in unserem Innern gefunden haben für die wissenschaftliche Ansicht von unserem inneren Leben? Nur andeuten will ich es.

Die Psychologie unterscheidet sinnliche Anschauungen, Vorstellungen und Begriffe auf der einen und Willensthätigkeiten auf der andern Seite, und beiden gegenüber stehen die Gefühle, die Erregung unserer Seele, der Zustand, in welchem sie sich befindet, während sie als wollendes oder als denkendes Wesen thätig ist; den Zustand also, welcher unsere Seele erfüllt, während sie irgend eine ihrer Functionen vollzieht, nennen wir das Gefühl.

Je nach dem Inhalte des Denkens, welches unsre Seele beschäftigt, und je nach der Art, wie die Thätigkeit von Statten geht, sind wir zugleich von freudigen oder schmerzlichen, von angenehmen oder peinlichen, von erhebenden oder beengenden, von beglückenden oder bedrückenden Gefühlen erfüllt. Von dem Wechsel des Inhalts oder der Form in der Thätigkeit unsres Geistes hängt die Wahrnehmung des Zustandes ab, in welchen unsre Seele dadurch versetzt wird; je heftiger der Wechsel, desto energischer die Gefühle. Nur selten ist der Zustand unsrer Seele während ihrer Beschäftigung so gleichmäßig, daß wir uns desselben gar nicht bewußt werden. Nicht abtrennbar sind diese Zustände von dem, was den Geist in seiner Thätigkeit erfüllt; wenn irgend ein Gedanke von einem Gefühle begleitet ist, so heißt es nicht, daß das etwas Abgesondertes ist, als ob es einem andern Organe entstammte, als ob es eine Thätigkeit für sich wäre, sondern eben in innigster Verbindung begleitet es, als der durch die Thätigkeit erzeugte Zustand der Seele, eben diese Thätigkeit. Es sind feine und tiefgehende Untersuchungen, welche die Psychologie darüber zu führen hatte und theilweise bereits mit großem Glücke geführt hat, daß aus diesen Zuständen, in welchen die Seele sich befindet, während ihrer Thätigkeit ihr ein neuer Zuwachs gekommen ist. Aus den Gefühlen, in welche sie versetzt ist, sei es bei Anschauungen der Natur, sei es bei irgend einer Beziehung zu andern Menschen, sei es bei irgend einer Regung ihres Willens, aus diesen Gefühlen hat sie all das allmählich in der Form von Vorstellungen, von Begriffen, von Ideen kennen gelernt, was wir als die ideale Welt überhaupt bezeichnen. In Gefühlen hat die ideale Welt für uns ihre ursprüngliche Quelle. Gleichwohl sind die Gefühle nicht etwa, wie man früher wohl gemeint hat, eine niedrigere Stufe der Erkenntniß; wären sie das, dann dürften, dann müßten sie verschwinden, sobald der Mensch sich vom Standpunkte des Gefühls, wie man es bezeichnet hat, zum Standpunkte einer höhern Erkenntniß erhoben hat. Nicht so: zwar auf frühern Stufen nur in der Form des Gefühls kommt dem Menschen die ideale Richtung seines Geistes und der ideale Inhalt zum Bewußtsein, aber wenn dann eben diese Idealität seines Wesens in der Form von Begriffen, in der Form von Vorstellungen zur Geltung gekommen ist, so ersetzen sie das Gefühl nicht.

Wenn in der Wirklichkeit irgend einer Auffassung idealer Gegenstände nicht auch die wahrhafte Lebendigkeit des Gefühls fortdauert, so sind die abstracten und kalten theoretischen Vorstellungen von diesen idealen Gegenständen leer und nichtig; die Vorstellung von dem idealen Werthe des Gegenstandes kann zutreffend

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_227.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)