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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


sein, die wirkliche Idealität oder die ideale Wirklichkeit desselben in meiner Seele ist dann nicht vorhanden. Ich kann z. B. irgend einen ästhetischen Gegenstand, ich kann eine Musik, die ich höre, ein Bild, das ich sehe, ich kann eine Dichtung, die ich wahrnehme, wohl auf diese ästhetischen Begriffe, auf die ästhetischen Gesetze, welche darin erfüllt sind, ansehen und mir so die ästhetischen Gesetze darin vergegenwärtigen: die wirkliche Schönheit darin habe ich nicht erfaßt, wenn ich selbst auf diesem Standpunkte gesetzmäßiger Erkenntniß nicht zugleich die Schönheit fühle, wenn meine Seele nicht von derselben bewegt und ergriffen, erhoben und befriedigt ist. Wie viel sittliche Begriffe können wir aussprechen, wie viel Maximen können wir nicht blos auf unsern Lippen, sondern auch in unserem denkenden Geiste haben, ohne daß wir dadurch wahrhaft sittlich sind, es sei denn, daß alle diese Ideen, Begriffe, Vorstellungen fort und fort begleitet sind von ihrer ursprünglichen, heimathlichen Quelle, von der eigentlichen Substanz der Idealität, aus der sie selber stammen, vom sittlichen Gefühle.

Weshalb nun nennt man fast in allen Sprachen eben diese Idealität unseres Geistes, eben diese schöpferische Quelle aller ästhetischen, aller sittlichen Verhältnisse, diesen Ursprung alles Friedens und aller Befriedigung, wie alles Widerstreites und alles Leides, mit dem Namen Herz? Daß unsere Gemüthsbewegung in einem gewissen Parallelismus und zwar in einem ursächlichen mit unseren Blutbewegungen, also mit der Thätigkeit unseres Herzens stehen, das hat von jeher die einfachste Erfahrung gelehrt. Die Freude, der Zorn röthet unser Antlitz; er treibt das Blut durch eine stärkere Bewegung des Herzens in’s Gesicht; der Schrecken, der Aerger, der Kummer macht uns erbleichen; er hemmt die Thätigkeit unseres Herzens; der Blutstrom wird matter, die Wellen seltener oder schwächer; den physiologischen Forschungen unseres Jahrhunderts aber war es vorbehalten, die Gesetzmäßigkeit dieses Parallelismus genauer zu erforschen, und man hat gefunden, daß vom Gehirn her zwei Nervenstränge sich herabsenken gegen das Herz hin, der eine durch das Rückenmark in der Bahn des sogenannten sympathischen Nerven, der andere dem Halse entlang in der Bahn des sogenannten nervus vagus, des umschweifenden Nerven; beide eingebettet in die Wandungen des Herzens, wirken die einen erregend auf die Herzthätigkeit und den Puls beschleunigend, die andern verlangsamend, die Thätigkeit des Herzens hemmend. Noch sind diese Entdeckungen in stetigem Fortschreiten begriffen; wir dürfen hoffen, daß sie uns allmählich feiner, zarter, fester und gesicherter gegenüber stehen werden. Seit die Gebrüder Weber die Hemmungsnerven entdeckt haben, sind die Forschungen durch Claude, Bernard, Betzold, Czermak, Ludwig Wundt und Andere weiter geführt, unsere Erkenntniß ist schrittweise bereichert worden, aber noch sind die Meinungen vielfach von einander abweichend. Das Gemeinsame, allgemeine Gleiche in ihnen ist nur dies eine, daß wir erfahren: alle Thätigkeit des Geistes, jede Erregung und Bewegung unserer Seele ist von Reizen und Regungen der Nerven zunächst des Gehirns begleitet; indem nun die vom Gehirn auslaufenden Nerven auch in den Wandungen des Herzens münden, pflanzen jene Reize und Regungen bis in dieses sich fort und üben einen bestimmenden Einfluß auf die Art seiner Bewegungen. Wir erfahren aber auch ferner: das Herz hat seine Bewegungen für sich ursprünglich auch völlig unabhängig von aller Nerventätigkeit, von allen Nervenreizen, die ihm aus dem Gehirn zugeführt werden; das Herz ist das ursprünglichste Organ im Menschen; der Mensch fängt damit an, daß er ein schlagendes Herz ist. Der Geist ist das spätere, das sich entwickelt und das dann Einfluß auf die Herzthätigkeit gewinnt. Durch die Vorgänge im Gehirn wird die Thätigkeit des Herzens verändert, verändert aber nicht erzeugt; in dieser und mancher anderen Beziehung findet zwar eine Wechselwirkung zwischen Herz und Gehirn statt, aber das Herz ist weniger abhängig vom Gehirn als umgekehrt. Wie schön ist das Symbol für diese Unabhängigkeit des Herzens, für sein Sonderleben in jenen Worten der Geliebten im hohen Liede: „ich schlafe, und mein Herz wacht.“

Ob die Physiologen jemals dahin kommen werden, die verschiedenen Arten der Gefühle genau wiederzuerkennen in den verschiedenen Graden und Arten der Nerventhätigkeit, welche die Functionen des Herzens verändern, ob die Feinheit der Unterschiede im Maße und der Art des veränderten Blutumlaufs unendlich, ob sie so groß und doch so erkennbar wie die Verschiedenheit der Gefühle, welche unser Herz bewegen, das steht dahin. Vor der Hand ist es im höchsten Grade wahrscheinlich, daß sehr verschiedene Gefühle darin gleich sein werden, daß sie auf gleiche Weise das Herz in Bewegung setzen und daß mehr der Grad als die Art der Gefühlserregung sich in dem Maße des veränderten Blutumlaufes individualisirt.

Wenn es nun so begründet ist, daß wir das Herz im inneren Sinne mit dem Namen des physischen Organs, jenes Pumpwerkes, das eben den Blutumlauf in unserm körperlichen Organismus besorgt, benennen, woher kommt es, daß gleichwohl die Psychologie, seit es eine solche Wissenschaft giebt, fast niemals vom Herzen redet? Aus der Psychologie ist die Bezeichnung des Herzens fast gänzlich verschwunden, vielleicht weil vor allem die Besorgniß gehegt wurde, es werde das leibliche Organ, wie im außerwissenschaftlichen Bewußtsein und seiner Sprache, als der eigentliche Sitz unserer Gefühle, als der Sitz der geistigen, der seelischen Herzthätigkeit angesehen werden. Das ist es in der That nicht. Das Herz ist nicht das Organ und nicht der Sitz der inneren Herzthätigkeit, sondern es ist allenfalls, wie man es mit Recht genannt hat (Horwicz), der Resonanzboden für jene Regungen, welche innerhalb der Seele sich vollziehen und im Gehirn ihre erste körperliche Mitschwingung erfahren.

Aber ein anderer Grund hat gewiß schon im Alterthume mitgewirkt. Wir sind daran gewöhnt, von Herz und Geist, von diesem Gegensatze als einem selbstverständlichen zu reden, und ihm zur Seite geht so zugleich die Bezeichnung der zwei Körpertheile, an welche diese seelische Verschiedenheit sich anlehnt, Herz und Kopf. Nun aber ist folgende Thatsache bemerkenswerth: Alle alten Völker wissen nichts vom Kopfe; weder die Aegypter noch Inder, weder die Hebräer noch Griechen oder die Römer haben vom Kopfe in unserem Sinne, als dem Sitze geistigen Lebens, geredet. Während wir sogar die verschiedenen Gaben des Geistes als einen hellen oder trüben, als einen schnellen oder schweren, als einen leichten oder harten Kopf bezeichnen, kommt die Bezeichnung des Kopfes in all den Sprachen, deren Völker ich genannt habe, nicht vor, sondern nur das Herz wird genannt, als Sitz geistiger Thätigkeit. Alles innere Leben, nicht blos das, was wir jetzt im Gegensatz zum Geiste als Herz bezeichnen, wird dort in’s Herz verlegt, oder in die benachbarten Organe des Rumpfes. (Wie bei den Hebräern die Nieren zu der Ehre gelangt sind, als Sitz – wie es nach den wenigen Stellen im Alten Testament scheint – vorzugsweise des Gewissens, aber auch sonst des Gemüthes aufgefaßt zu werden, das entzieht sich einstweilen unserer Einsicht, wird ihr vielleicht, weil uns die Thatsachen fehlen, für immer verborgen bleiben.) Woher mag das kommen?

Ist es nicht erstaunlich, um so viel mehr, als ja doch alle edlen Organe, welche der geistigen Thätigkeit dienen, das Auge, das Ohr, selbst Geschmack und Geruch und das Organ der Sprache, alle im Kopfe sitzen? Vielleicht ist es dadurch allein erklärlich, daß wir eben von der Thätigkeit des Kopfes, oder vielmehr von der Thätigkeit des Gehirnes, keine unmittelbare Wahrnehmung haben; in unserm Herzen dagegen, in den Veränderungen unseres Blutumlaufes nehmen wir alle geistige Bewegung zu gleicher Zeit wahr, und zwar desto deutlicher und unmittelbarer, je stärker die Erregung der Seele oder die Gefühlsbegleitung der Vorstellungen ist. Physiologische Beobachtungen haben indessen gezeigt, daß auch heute noch beim Menschen in früher Jugend, und in je früherer Jugend, desto mehr, die Veränderungen des Blutumlaufes und alle organische Mitschwingung des Körpers auch bei einfachen Vorstellungen eintritt; Vorstellungen, die das Gemüth des Erwachsenen gar nicht in Bewegung setzen, gleichsam nur theoretische geistige Bilder ausmachen, bringen die Seele und den Leib des Kindes in Erregung; nur allmählich, indem der Mensch heranwächst, wird seine leibliche Herzthätigkeit mit ihrer Veränderung auf eine Erregung des geistigen Herzens oder der Gefühlsthätigkeit beschränkt. Ganz gewiß ist es im Laufe der Entwicklung der Menschheit ebenso gewesen; je früher die Geschichte der Völker, desto mehr wird ihr ganzer Organismus auch von theoretischer Thätigkeit, auch bei bloßen und blassen Gedanken in Bewegung gesetzt worden sein. In diesem Sinne könnte man sagen, daß die alten Völker die Welt noch mehr mit den Herzen aufgefaßt haben.

Eben deshalb aber, weil nun das Herz damals die gesammte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_228.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)