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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„Sie haben dann Spott und Schande auf mich und meines Vaters Haus geworfen, bis Dein Vater mich in seinen Wagen nahm, daß wir allein und auf andere Straßen zögen, als die Uebrigen.“

„Er wird mir kein Leid anthun,“ entgegnete das Mädchen nach kurzem Besinnen ausweichend. „Meine Lebenslinie weiß nichts davon.“

„Hole ein Messer!“ gebot die Kranke heftig.

Die braune Juschka ging hinaus und kam mit dem Dolch zurück.

„Ritze Dich in den Finger und laß ein paar Tropfen in das Feuer fallen, und dann schwöre!“

Nach kurzem Kampfe entschied ein Blick auf das furchtbar erregte Gesicht der Frau. Den blutenden Finger über das Feuer haltend, sagte das Mädchen:

„Ich schwöre.“

Die Kranke legte den mühsam empor gehaltenen Kopf beruhigt zurück und schloß die Lider, während Jene hinausschlüpfte und ohne Waffe wiederkehrte, um ruhig ihre Lage zwischen dem Feuer und dem fremden Manne auf’s Neue einzunehmen.

Der Nachthimmel wollte gar nicht hell werden. Nach und nach fand sich wieder ein ziemlich heftiger Regen ein, und es war spät geworden, als die Zigeuner vom Wagen kletterten. Die braune Juschka hatte einen Topf über dem Feuer stehen, aus dem die Beiden etwas genossen, worauf sie sich an den Fluß hinunter begaben, um nach den Netzen zu sehen. Urban schlief noch immer, aber ziemlich unruhig sich hin und her werfend; der Alte hatte ihn mit befriedigtem Nicken betrachtet, als er in das Zelt gekommen war. Nach dem Abgange der Männer war es wieder still im Zelte, und der Regen hörte auf.

Plötzlich wurden draußen eilige Schritte laut, die Tritte derber Männerstiefeln. Die junge Zigeunerin spähte neugierig durch die Lücke seitwärts vom Vorhang und fuhr mit einem Schrei zurück. Der Schrei hatte die Wirkung, sowohl die schlummernde Kranke, wie auch Urban zu erwecken, der sich verwirrt aufrichtete, nach seinem Kopfe griff, wo er das Tuch fühlte, und dann mit großen Augen fragte: „Wo bin ich?“

Die braune Juschka antwortete nicht; sie stand dicht neben dem Kopfe der Mutter an die Zeltwand gedrückt, als ob sie diese durchdrängen wollte, und starrte angstvoll auf den Eingang.

Zwei Männer krochen unter dem von Nässe steifen Vorhange herein: der Friese Harro und der Fabrikleiter Bandmüller.

„Wahrhaftig, er ist es,“ rief der Letztere eifrig; „und er ist zum wenigsten nicht todt. Aber um aller Heiligen und Unheiligen willen – wer soll denn jetzt unsere Sache leiten? Es ist die höchste Zeit, daß wir drüben erfahren, wie? und wo? Alles ist schon auf den Beinen, aber Niemand ist da, der die Ordres ausgiebt, und meine Collegen wollen auf ihren Kopf allein nichts wagen. Mir gehorcht Niemand, und wer vom Comité da ist, behauptet bis auf diese Stunde, von Allem nichts zu wissen. Ich habe einen Wagen mitgebracht und bin froh, daß wir von dem braunen Lumpenpack am Wasser wenigstens erfahren haben, wo wir Sie finden konnten, Herr Doctor. Es bleibt gar nichts übrig: Sie müssen mitfahren oder es wird aus Allem nichts. – Sieh da, Schätzchen, wir reden nachher zusammen,“ wandte er sich mit flüchtigem Drohblick zu dem Mädchen hin.

„Ich fahre mit, versteht sich,“ sagte der Doctor. „Guten Morgen, Herr Harro! Ich denke, Sie sind längst in England oder wer weiß wo.“ Er machte eine gewaltsame Anstrengung sich zu erheben, aber die Kraft verließ ihn, und er sank zurück und lag ein paar Secunden mit geschlossenen Augen.

„Es geht nicht,“ stammelte er blaß; „meine Glieder sind wie Blei. Ich dachte diese Nacht nicht daran, daß ich heute früh noch einen Funken Leben haben könnte, um für Eure Revolution verantwortlich zu bleiben. Ich muß mich erst besinnen, wie das Alles gekommen ist. – Ja – ja –“ flüsterte er, und dann kam wieder etwas wie eine kurze Ohnmacht über ihn. „Es wird doch wohl nichts werden,“ fuhr er nach einer kleinen Pause kräftiger fort, indem er die Augen wieder öffnete; „die Weiber – die Weiber! Sie machen den besten Kopf verrückt. Wenn ich mich recht erinnere, so bin ich den Wasserfall hinuntergestürzt, und es scheint, daß die Zigeuner mich aufgefangen haben. Eine so schöne Revolution fix und fertig, und nun soll sie unterbleiben! Nein, das darf nicht geschehen; es wird ja anderwärts auch losbrechen. Revoltirt nur drauf und drein, baut Barricaden vor allen Zugängen vom Rheine her, besonders auf der Chaussee so viel wie möglich! Wie steht’s mit der Eisenbahn?“

Er sprach die letzten Worte aus Schwäche so leise, daß sie kaum verständlich waren. Bandmüller begriff, was der Doctor meinte.

„Sie sind heute früh nach verrichteter Sache zurückgekommen,“ sagte er zögernd und zuckte die Achseln; „aber sie müssen es sehr ungeschickt angefangen haben, denn kurz ehe ich hierher fuhr, ist dennoch ein Zug angekommen. Man hat also wohl den Schaden in der Nacht noch gefunden und ausgebessert.“

„Dumm – sehr dumm!“ flüsterte Urban. „Wollen Sie nicht an meine Stelle treten, Herr Harro?“ sprach er lauter, indem er die Augen auf den Letzteren richtete. „Sie finden Alles vorbereitet, die Leute, das Material – Sie brauchen blos zu disponiren. Herr Bandmüller wird Ihnen jede wünschenswerthe Auskunft geben. – Mein Plan, mein schöner Plan!“

„Fahren Sie mit mir, Herr Harro!“ drängte Bandmüller. „Ich freue mich, daß mein Absteigen im Wirthshause mir die Ehre Ihrer Bekanntschaft vermittelt hat. Es war das, wie ich annehme, ein Fingerzeig der Vorsehung.“

„Wohlan denn, ich will,“ sprach der Friese pathetisch und hob die Schwurfinger in die Luft. „Ich wollte mir eigentlich etwas Rechenschaft über eine gewisse Kahnfahrt mit einer Dame ausbitten, Herr Doctor, denn ich nehme an der Ehre und dem Wohlergehen dieser Dame sehr lebhaften Antheil. Aber wo die große Sache ruft, da müssen persönliche Rücksichten schweigen. Ohnehin sind Sie jetzt krank – Ah, was ist das?“

Niemand von den eifrig sprechenden Männern hatte seither auf jene Ecke geachtet, in welcher sich die beiden Frauen befanden, Niemand das geisterhafte, haßverzerrte Gesicht gesehen, mit welchem die Kranke in äußerster Spannung auf die Worte des Fabrikleiters gelauscht hatte.

„Juschka, den Dolch, den Dolch, aber schnell!“

Die junge Zigeunerin, welche die leisen, keuchenden Worte vernommen, war mit der wunderbaren Gewandtheit, über welche sie verfügte, unhörbar an den Eingang geschlichen und mit so wenig Geräusch hinausgeglitten, daß weder Bandmüller noch Harro, die ihr den Rücken zugekehrt, etwas davon gewahr geworden waren. Dabei war ihr freilich der Umstand zu Hülfe gekommen, daß der Fabrikleiter durch die Verhandlung mit Urban sichtlich auf das Angelegentlichste beschäftigt wurde. Sie war nicht wieder in das Zelt zurückgekehrt, sondern draußen hatte es beim Kopfende des Lagers gegen die Zeltwand geklopft, und dann hatte sich die Waffe unter dem Leinen hindurchgeschoben, gierig erfaßt von dem halbtodten Weibe, in welchem der Rest von Leben noch einmal zu einer dämonischen Kraftäußerung aufflackerte.

Sie schob sich langsam aus ihren Lumpen hervor, einen Rock um die Hüften und die Füße schwerfällig umwickelt, und kroch, durch das rauchende Feuer gedeckt, bis in die Nähe Bandmüller’s, den sie keinen Moment aus den Augen verlor. Sie spürte nichts von Schwäche, von dem Wühlen und Bohren in der Brust; mit der Muskelspannung des Gesunden richtete sie sich plötzlich hinter dem Fabrikleiter auf und holte mit der blitzenden Waffe aus –

Es fragt sich, ob sie die Kraft gehabt hätte, den beabsichtigten Stoß mit hinlänglicher Wucht zu führen. Aber es kam nicht so weit. Die Bewegung hinter Bandmüller hatte rechtzeitig die Augen Harro’s auf sich gezogen, der in rascher Geistesgegenwart den Bedrohten am Rockaufschlage erfaßte und vorwärts riß.

„Ah, was ist das?“

„Verräther!“ schrie das Weib mit heiserer Stimme und ihre hohlen schwarzen Augen glühten, als Bandmüller sich herumwandte und ihr verdutzt in das Gesicht sah. „Kennst Du mich?“

„Eine Verrückte!“ rief der Fabrikleiter und fiel ihr in den Arm, mit dem sie auf’s Neue die Waffe schwang. „Was habe ich mit Dir zu schaffen, altes Skelet! Leg’ Dich in die Ecke und stirb!“ Er schleuderte die Unglückliche so heftig zurück, daß sie taumelnd zu Boden stürzte. Der Dolch flog aus ihrer Hand gegen die Zeltwand; das Blut der wunden Brust quoll ihr vom Munde; ihre brechenden Augen hafteten unverwandt auf dem Rohen, der sich mit einer Geberde der Verachtung zu Harro hinkehrte – –

Draußen vor dem Zelte ertönte der laute Aufschrei einer weiblichen Stimme – –

Einige Secunden später war die Zigeunerin todt.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 244. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_244.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)