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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Freundlichkeit und dem Wohlwollen bis zu den Gefühlen der Freundschaft, der Liebe, und schließlich jene ersehnte und gesuchte Zusammenschließung des endlichen Wesens mit seinem unendlichen Schöpfer in der Religion: welch eine Fülle und Mannigfaltigkeit! Endlich aber wird unsre Seele bewegt in jenen objectiven, idealen Gefühlen, die ich vorher bereits in ihrer Anwendung genannt habe; das Wahrheitsgefühl vor Allem, welches die Menschheit treibt zur unablässigen Forschung, welches uns drängt zum Suchen, zum Zweifeln, um endlich zum Lichte der Wahrheit durchzudringen; die Gefühle der Schönheit, der Sittlichkeit, welche ja das Leben der Gesellschaft und das Leben des Einzelnen in seinem wahren Werthe, in seiner innern Würde erst aufbauen.

Alle diese Gefühle können wir als einfache bezeichnen, jedes einzelne aber bietet uns eine Vielheit der Formen. Denken wir z. B. an das eine Gefühl des Muthes – wie mannigfaltig verschieden ist der Muth bei den Menschen! Wie wenig treffen wir bereits die Charakteristik, die Signatur eines Menschen, wenn wir ihn als muthig oder sein Gegentheil bezeichnen! Der eine, der vielleicht muthig wäre in der Schlacht, würde es nicht wagen, Nachts über den Kirchhof zu gehen; der andere ist muthig zu Lande, zur See aber wankt dennoch sein Herz; dieser ist vollkommen muthig bei Tage, bei Nacht aber schwindet ihm der Muth. Und wie verschieden sind die Arten des Muthes selbst da, wo er in einer ganz gleichen Form als Muth der Aufopferung sich zu erkennen giebt, wie verschieden, wenn man so recht eigentlich und tief innerlich die Sache ansieht, bei jenen Spartanern, welche unter Leonidas sich hingeopfert haben für die Ehre ihres Vaterlandes, bei jenen Maccabäern, welche sich hinopfern ließen, um das Gesetz ihres Gottes zu erhalten, und bei all den Märtyrern, welche für den Glauben, dem sie leben, auch sterben! Und würden wir nicht fast an jedem Gefühle ebenso wie an dem des Muthes eine solche Vielheit der Formen und Arten aufzeigen können?

Von der unendlichen Mannigfaltigkeit im Gefühle der Liebe legt die Poesie aller Völker und Zeiten ein überwältigendes Zeugniß ab, das alle Wissenschaft überflügelt und bedrückt.

„Aber nicht blos verschiedenartig in ihrer Form, ebenso mannigfach in ihrem Grade sind ja alle diese Gefühle, und wie sie in Form und Kraft verschieden sind, so wiederum nach persönlichen Verhältnissen. Dasselbe Gefühl, in jedem Alter ist es bei uns ein anderes, und ein anderes auch fast in jedem Stande; hat aber schon jedes Gefühl eine eigene Färbung, je nach den Stufen der Bildung, so ordnet es sich auch verschieden für Jeden in das Ganze seines Lebens ein und spielt eine andere Rolle darin.

Alles dies gilt von den einfachen Gefühlen, aber wir haben nicht blos einfache, wir haben auch gemischte Gefühle, gemischt bald aus gleichartigen, bald sogar aus ungleichartigen und widerstrebenden Gefühlen. Gleichartig bis zum Entsetzen ist’s, wenn Schmerz über vergangenes Leid, Kummer über gegenwärtiges, Sorge um zukünftiges sich zusammenfinden, um den Gram auszumachen; im Gegentheil ist in der Begeisterung meistentheils die Bewunderung des Gegenstandes, für welchen wir begeistert sind, mit dem Muthe und der Hoffnung, für ihn zu wirken, verbunden, und dazu gesellt sich das Gefühl der eigenen Kraft, in dieser Wirksamkeit sich bethätigen zu können, um eine einheitliche, erhöhte Stimmung zu erzeugen.

Aber auch verschiedene Gefühle, die entweder der Zufall aneinander bringt, oder die aus derselben Sache folgen, bewegen gleichzeitig unser Gemüth. Wie kann das menschliche Herz gefoltert werden durch entgegengesetzte Gefühle, wie wenn etwa in einer Familie in derselben Stunde ein Kind geboren, ein anderes von hinnen genommen wird! Solcher Zufälligkeit, obwohl glücklicher Weise selten von solcher Nähe und Schärfe des Gegensatzes, sind wir fort und fort in jeder Stunde ausgesetzt, daß verschiedene Ereignisse an unsere Seele herantreten und entgegengesetzte Gefühle hervorbringen, aber auch aus einem und demselben Ereignisse können sie fließen. Wenn ein aufleuchtender Gedanke in uns ist, der uns mit einer gewissen Seligkeit erfüllt, während er auf der andern Seite liebgewordenen Glaube oder angenehme Illusionen uns raubt, wenn wir den doch nicht allzu seltenen Fall erleben, daß wir von einer geliebten Person eine Erbschaft zu machen haben – ein edles Herz windet sich unter diesem ihm aufgezwungenen Gegensatz von Freude und Schmerz; – wenn wir zu Gunsten eines Anderen auf ein Glück, auf eine Freude verzichten, aber mit Freude den Schmerz des Verzichts ertragen: so fließen hier überall aus gleichem Ereignisse verschiedene, entgegengesetzte, und dennoch gleichzeitige Gefühle.

Die Gefühle folgen ebenso wie alle inneren Vorgänge und alle äußeren Erscheinungen einer bestimmten Gesetzmäßigkeit. Auch ohne wissenschaftliche Erkenntniß haben wir nicht nur eine dunkle Vorstellung von derselben, sondern wir rechnen auf sie, wir handeln selbst und erwarten Handlungen von Anderen auf Grund dieser Gesetzmäßigkeit, wie wir auch ohne die Wissenschaft der Physiologie vielen Gesetzen, die sie kennen lehrt, aus Erfahrung folgen. Mindestens aber ist es die lange Erfahrung selbst, an Anderen und an uns selbst gemacht, welche uns dort wie hier gewisse Gefühle bestimmt erwarten läßt. Das Leben aber überrascht uns damit, daß wir gar nicht selten, bei Anderen und bei uns, Gefühle auftreten sehen oder Formen und Grade dieser Gefühle, die wir nicht erwartet hätten. Wir glaubten uns doch zu kennen; wir hätten das Auftreten dieses Gefühls, in dieser Verbindung, mit dieser Macht bei uns nicht für möglich gehalten. Frühreife und spät blühende Gefühle treffen wir, die uns in Staunen versetzen, oder Gefühle, welche mit unseren Gesinnungen und Meinungen so wenig zu harmoniren scheinen. Wir hätten z. B. nicht gemeint, daß uns eine, daß uns diese Landschaft so entzücken könnte, daß wir diesen Zug von Eitelkeit, jenen von Neid noch in uns antreffen könnten. Und dann eben sagen auch wir uns mit einer gewissen Verzweiflung, daß doch das menschliche Herz unergründlich sei.

Wenn wir nun aber mit Hülfe der Psychologie uns hinaushöben über alle diese Verschiedenheiten, wenn wir die Leitstäbe fänden, um alles dies einzuordnen, sodaß wir einen klar und wohl gesichteten Ueberblick über alle diese Arten von Thätigkeiten des menschlichen Herzens hätten, und die Gesetze derselben zu erkennen uns anschicken dürften, wäre es dann ergründlich für uns? Das heißt: erschiene es uns ergründlich? Denken wir nur an das Eine: trotz alledem und alledem würde uns der Gedanke kommen, daß in jeder Stunde – was sage ich: Stunde! – daß in jeder einzelnen Minute Millionen und abermals Millionen Herzen schlagen, und in jedem Schlage ist es ein anderes Gefühl, in jedem eine andere Regung, jedes von einem andern Gegenstande getragen und erhoben oder gedrückt und niedergebeugt. Wiederum wäre es schließlich die sinnverwirrende Mannigfaltigkeit, welche uns daran verzweifeln ließe, das menschliche Herz zu ergründen, während die Wissenschaft still und besonnen ihren Weg geht, um das verwirrende Chaos dieser Mannigfaltigkeit zu lichten und zu ordnen, mit Maß und Gesetz zu durchdringen. Eins aber kommt noch hinzu, was auch die Wissenschaft noch zu wenig beachtet hat, um deswillen uns das Herz unergründlich erscheint und welches reichlich und reiflich beachtet werden muß, damit es in Zukunft ergründet werde.

Nämlich dies Eine noch: das menschliche Herz hat seine Geschichte; auch die Gefühle sind Gegenstände historischer Entwickelung. Es ist schwer, den Antheil, den das Gefühl an der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit hat, festzustellen. Die Werke des Geistes finden ihre ausgeprägte Form und werden in dieser deutlich überliefert; auch die Richtungen des Willens finden in den Ereignissen, wie in den Institutionen, welche die Menschen durch ihre Energie geschaffen haben, ihre feste Ausprägung. Was das Gefühl, die innern Zustände während dieser Willensenergie, während dieser geistigen Arbeit der Menschen gewesen ist, das entzieht sich meist mindestens dem unmittelbaren Blicke unseres Auges. Es ist eine tiefe Symbolik der Natur, daß wir von hingegangenen Generationen wenigstens die Schädel in späterer Zeit finden, und wir können an ihnen messen, wie die Menschheit, wie einzelne Nationen allmählich verschieden entwickelte Formen für das Gefäß ihrer geistigen Thätigkeit, ihre Intelligenz gefunden haben, das Herz aber, sobald es zu schlagen aufhört, ist es auch der Verwesung preisgegeben. Welche Gefühle in der Geschichte mitgewirkt haben und wie die Gefühle selbst Gegenstand historischer Entwickelung sind, das ist um so viel schwerer zu entdecken; – daß sie aber historisch alle entwickelt sind, das entzieht sich wohl keinem von uns, sobald wir auf den Gedanken hingewiesen werden. Welche weiten Abstände hat ein in allen Wandlungen allerdings gleichartiges Gefühl, das deshalb auch stets mit gleichem Namen bezeichnet wurde, wie das der Ehre

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_247.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)