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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


durch die Lebensverhältnisse, gewöhnlich im Mannesalter bei Gelehrten, Professoren, Beamten, Geistlichen, Kaufleuten und bei sehr vielen Frauen, welche nur zu häufig einen großen Theil ihrer Tageszeit am Nähtische oder hinter dem Stickrahmen oder beim Rabusespielen und Patiencelegen zubringen.

Wir genießen da fast Alle zu viel, wenn auch nur relativ, da wir das, was wir genießen, nicht gehörig verarbeiten. Wir essen nicht blos, um das zu ersetzen, was den Tag über im organischen Haushalte verbraucht wird, sondern wir essen sehr häufig blos aus dem Grunde zu viel, weil es uns gut schmeckt. Würden wir dabei eine Lebensweise führen, wie zum Beispiel die Drescher oder Holzhacker und dergl., so wäre unsere reichliche Kost nicht vom Uebel, wir würden sie eben wieder durch Muskelanstrengung verarbeiten. Wir machen uns aber gewöhnlich nicht hinreichend Bewegung in freier, sauerstoffreicher Luft und halten uns besonders im Winter zu viel in warmen, nicht gehörig gelüfteten Wohnungen auf. Diese Lebensweise aber bedingt einen zwischen Gesundheit und Krankheit schwebenden Zustand, welcher besonders bei ererbter Anlage manchen der obenerwähnten Krankheitszustände schon im Keime enthält, aus welchem sich diese unfehlbar entwickeln, wenn durch eine veränderte Lebensweise[1] und ein geeignetes Heilverfahren ihrer Entwickelung nicht bei Zeiten vorgebeugt wird.

Man hat diesen noch durch keine hervorstechenden Krankheitserscheinungen sich charakterisirenden Zustand früher häufig als Anschoppung, Unterleibsvollblütigkeit, oder als venöse Blutmischung und krankhaft erhöhte Venosität bezeichnet, Bezeichnungen, welche vor der neuern exacten Wissenschaft wenig Gnade mehr finden. Doch dem sei wie ihm wolle, der Name thut nichts zur Sache, gleichwohl aber existirt dieser Zustand nur zu häufig und ist wohl hauptsächlich auf einen theilweise oder allgemein mangelhaften Stoffwechsel zurück zu führen. Es häuft sich nämlich einerseits ein über das Bedürfnis reichliches Nahrungsmaterial an, so zum Beispiel in den Muskeln als sogenannte ermüdende Stoffe, als Fettablagerungen etc., und andererseits wird die Aussonderung verbrauchter Stoffe, namentlich des Kohlenstoffes als Kohlensäure durch die Lungen, des Stickstoffes als Harnstoff, Harnsäure etc. durch die Nieren, der Kohlenwasserstoffverbindungen (Fett etc.) mittelst der Galle durch den Darmcanal vermindert.

Dieser Zustand nun charakterisirt sich etwa in folgender Weise: Man ist zwar nicht eigentlich krank, fühlt sich aber doch recht oft unbehaglich ohne besonderen Grund. Der Unterleib nimmt mehr, als es uns lieb ist, an Umfange zu, man ist daher genöthigt, fast nach jeder Mahlzeit sich die Kleider aufzuknöpfen, um die lästige Spannung zu mildern, doch nicht blos am Unterleibe, auch an dem Brustkorbe setzt sich mehr als nöthig Fett an, und man geräth daher bei rascherem Gehen oder Treppensteigen leicht außer Athem; öfters stellt sich, namentlich des Morgens nach dem Erwachen, eine reichliche Schleimabsonderung ein, welche zu häufigem Räuspern und Husten veranlaßt. Man wird besonders nach Tische leicht heiß im Gesicht und geräth sehr leicht in Transpiration; man hat öfters saures Aufstoßen, sogenanntes Sodbrennen. Heißhunger wechselt mit Appetitlosigkeit ab; man fühlt den Unterleib öfter nicht blos nach der Mahlzeit aufgetrieben, wie eine Trommel gespannt, mit einem Gefühl, als ob man eine Weltkugel im Leibe hätte. Man leidet häufig an Blähungen und ist sehr erfreut, wenn man sich durch Aufstoßen oder auf die entgegengesetzte Weise Luft machen kann. Das Aufstoßen ist entweder ein leeres oder saures und ranziges; als Reflex dieser krankhaften Luftentwicklung im Magen und Darmcanal fühlt man den Kopf oft eingenommen, wüste, schwer. Der Bauer sagt: „mir sitzen die Winde im Kopfe“ und er hat insofern ganz Recht. Ein andres, sehr häufig auftretendes Symptom dieser Gasentwicklung ist ein mit Beängstigung verbundenes, paroxysmenweise auftretendes Herzpochen, häufiges Intermittiren des Pulses, überhaupt sehr unregelmäßiger Herzschlag; man hat aus demselben Grunde auch häufig schwere, höchst beängstigende Träume, unruhigen Schlaf und muß oft stundenlang wach im Bette liegen, bevor man wieder einschläft. Bisweilen erwacht man aus einem überaus qualvollen, dem sogenannten Alpdrücken ähnlichen Traum, gewöhnlich unter heftigem Herzklopfen.

Man hat bisweilen Schwindelanfälle, besonders beim Umdrehen im Bette, bei schnellem Aufblicken. Es flimmert vor den Augen; nicht selten Ohrenklingen, besonders häufig Zischeln, auch mehr oder minder starkes Sausen in den Ohren. Der Stuhlgang ist recht häufig träge, wie ungenügend, sehr übelriechend; es ist nicht selten mehrtägige Stuhlverstopfung vorhanden, damit aber kann auch Diarrhöe abwechseln, wonach man nicht selten das Gefühl von Brennen im After hat; man hat sehr häufig ein überaus lästiges Jucken am After, und es drängen sich die sogenannten Knoten hervor; bisweilen ist auch der Stuhlgang blutig; der Urin ist häufig stark sauer, brennt beim Durchgange durch die Harnröhre, färbt das Nachtgeschirr, so hoch der Urin darin steht, mehr oder weniger roth und setzt wohl auch sogenanntes Ziegelmehl und feinen röthlichen Sand ab; man fühlt sich oft ohne allen Grund recht müde. Die Füße sind wie bleiern, sodaß man deswegen nicht gern spazieren geht, wenn man es aber consequent doch thut, so nimmt die Müdigkeit durchaus nicht zu, im Gegentheil, man geht dann mit großer Leichtigkeit und sogar oft mit Behagen stundenlang. Es stellen sich von Zeit zu Zeit Schmerzen an den Füßen oder Händen oder sonst wo ein (Gichtanmahnungen). Ganz besonders aber – und das ist nicht selten das hervorstechendste Symptom – wird man oft ohne allen Grund verdrießlich, melancholisch, leicht zum Zorne gereizt, launenhaft, unliebenswürdig; man ängstigt sich über jede Kleinigkeit, sieht Alles schwarz etc., kurz, es bildet sich ein Zustand, den man Hypochondrie nennt.

So gestaltet, kann dieser Zustand eine geraume Zeit bestehen, und diese Menschen können sich dabei, wie gesagt, einer im Ganzen leidlichen Gesundheit und sogar eines blühender Aussehens erfreuen. Wird aber dieser Zustand unbeachtet gelassen und setzt man die früher erwähnte Lebensweise fort, so entwickelt sich früher oder später unfehlbar einer der oben genannten Krankheitszustände.

Der hier geschilderte Körperzustand (denn ein wirklicher Krankheitszustand ist es noch nicht) ist es nun ganz vorzugsweise, welcher durch eine regelrechte, vollständige Cur in Karlsbad mit überraschend günstigem Erfolge in kurzer Zeit gehoben werden kann. Es ist dies eine Thatsache, auf welche wir die geneigten Leser mit allem Nachdrucke aufmerksam machen. Es muß zudem auch gesagt werden, daß, wenn einmal dieser Zustand in eines oder das andre jener Leiden ganz entschieden ausgeartet, die Heilung dann oft eine sehr schwierige und nicht selter eine nur palliative oder zeitweilige ist.

Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß nicht sämmtliche oben aufgezählte Krankheitserscheinungen bei jedem Individuum auftreten, sondern blos eine kleinere oder größere Reihe derselben.

Nun soll noch auseinandergesetzt werden, auf welche Weise Karlsbad bei dem in Rede stehenden mitunter höchst unbehaglichen Körperzustande Hülfe schafft.

Bei einer solchen Cur wird für's Erste durch die höchst glückliche Mischung (durch das Ensemble) der mineralischen Bestandtheile unserer ebenso kräftigen wie milden und völlig unschuldigen, aber auch dem Geschmacke nach nicht im geringsten unangenehmen Heilquellen der gesammte Ausscheidungsproceß, der Stoffwechsel, die Mauserung (wie man recht bezeichnend auch sagen kann) bethätigt, und es werden mithin die im Ueberfluß in den verschiedenen organischen Speichern abgelagerten Nahrungsstoffe,

  1. Sehr häufig wird die Karlsbader Kost als unschmackhaft, saft- und kraftlos getadelt, diese ist aber im Ganzen viel besser als ihr Ruf. Sie braucht auch der Cur wegen, was man fast allgemein glaubt, durchaus nicht unschmackhaft zu sein, was man euphemistisch „curgemäß“ nennt. Im Gegentheil, die Speisen sollen so gut und kräftig wie möglich zubereitet sein, ohne daß deswegen die Fleischgerichte und Gemüse im Fett zu schwimmen brauchen. Da jedoch das Vorurtheil: die Kost müsse während einer Karlsbader Cur saft- und kraftlos sein, zu einem so ziemlich überwundenen Standpunkt gehört, so ist in der That die Kost hierorts gegenwärtig in den meisten Gasthäusern eine recht befriedigende. Allerdings kommt man nicht nach Karlsbad, um lucullische Gastmahle zu halten, sondern gerade deswegen, weil viele Curgäste deren zu viele gehalten haben. Die Mahlzeit soll in Karlsbad nicht aus vielen oder vielerlei Gerichten, sondern nur aus wenigen bestehen. Die wenigen aber können, wie gesagt, so gut wie möglich zubereitet sein. „Die Eigenschaft der Speisen hat wohl selten, oft aber die Menge derselben geschadet.“ Das sind die Goldworte des Dr. D. Becher, der über Alles, was den Curgebrauch von Karlsbad betrifft, die vollwichtigste Autorität ist. Jener Ausspruch ist auch zugleich der beste Fingerzeig rücksichtlich der Auswahl der Speisen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_268.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)