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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


sich die feinen blauen Weihrauchwölkchen kräuselten, und der Dechant war darunter, der die blitzende Monstranz hielt und die assistirenden Geistlichen neben sich hatte, – in Farbenglanz und Sonnenschein wickelte sich die Procession aus der tausendköpfigen Zuschauermenge.

Der Heilige feierte seinen Triumph, und die Freiheit saß müde in ihrem dunkeln Winkel und rieb sich die wunden Stellen, welche ihr die Fesseln gedrückt hatten in der kurzen vergeblichen Anstrengung, sie zu zerreißen, und sie seufzte dazu.

Zur nämlichen Stunde aber ging ein Mann schnell durch eines der ärmlichen, engen Gäßchen am Wasser und trat in ein Haus, das so baufällig, bröckelig und schmutzig war, wie seine ganze Umgebung, und einen Augenblick nachher stand der Mann vor einer wurmstichigen Bettstelle, in der zwischen dünnen Kissen ein Mensch sich krümmte, jammernd und mit hohlen Augen im bleigrauen Gesicht den Arzt anstarrend, der sich über ihn neigte und dessen Antlitz sich plötzlich entfärbte, daß es aussah, als ob der Wiederschein von dem Krankengesicht da unten sich in ihm spiegele.

„Gott erbarme sich unserer guten Stadt!“ flüsterten die Lippen des Arztes – „das ist die Cholera!“

(Fortsetzung folgt.)





Ein König im Reiche der Zahlen.
Zum hundertjährigen Geburtstage von Karl Friedrich Gauß.

In lichter Höhe am Ruhmeshimmel der deutschen Forscher und Denker, da wo die Namen Kopernikus und Kepler, Leibniz und Kant in Sternenschrift glänzen, steht neben dem seines Freundes Alexander von Humboldt auch der Name Karl Friedrich Gauß. Er glänzt darum nicht weniger hell, weil seine deutschen Landsleute, den Eigenthümer für einen Franzosen haltend, ihn zuweilen „Gooß“ aussprechen, oder weil die große Encyklopädie von Ersch und Gruber und, wenn ich nicht irre, auch die Regensburger „Walhalla“ seiner ganz vergessen haben. Es läßt sich ja fast durch Rechnung erweisen und ist völlig in den Zahlen begründet, daß der große Mann, der so viele unbekannte Größen in bekannte verwandelte, der großen Mehrzahl selber eine „unbekannte Größe“ bleiben mußte. Gerade der Fürst derjenigen Wissenschaft, die sich für die Fürstin aller Wissenschaften halten darf, also der primus omnium unter den Gelehrten, der im Rechnen selbst einem Archimedes und Newton „über“ war, muß dem Schicksale verfallen, incognito zur Unsterblichkeit zu reisen, wenn wir Andern uns nicht die Bewunderung der Wenigen, die seinem Geistesfluge und seinen Rechnungen folgen können, zum Beispiel nehmen.

Das unscheinbare Erkerhäuschen, in welchem Gauß am letzten April 1777 geboren wurde, ist noch heute, mit einer kleinen Gedenktafel geschmückt, auf dem Wendengraben in Braunschweig zu finden. Wie es in der Regel bei großen Männern der Fall zu sein pflegt, hat seine Mutter Dorothea, geborene Benze, in viel höherem Grade als der Vater, der den Titel eines Wasserkunstmeisters führte, den Schatz seiner Liebe gehütet und die Pflege seiner Anlagen geleitet, und sie hat das seltene Glück gehabt, später von der Göttinger Sternwarte aus den Ruhm ihres Lieblings – wie man hier ohne Uebertreibung sagen darf – bis zu den Sternen steigen zu sehen, ehe sie in ihrem siebenundneunzigsten Jahre (1839) die kurz vorher erblindeten Augen schloß.

Vielleicht war die Mutter dem Sohne auch geistig näher verwandt, als der Vater. Da der Zahlensinn zu denjenigen Geistesfähigkeiten zu gehören scheint, die am meisten eine angeborene Anlage voraussetzen, so ist es eine wohl aufzuwerfende Frage, von welcher Seite her Gauß dieses feine Geistesorgan, dessen wunderbar zarte Windungen später sogar die Anatomen bewundert haben, geerbt haben möge. Wir erfahren in dieser Beziehung, daß auch seiner Mutter Bruder, ein schlichter Webermeister, überaus scharfsinnig gewesen ist, sodaß sich der geistesrege Knabe früh an den „klugen Oheim“ schloß, den er noch in späten Jahren ein „geborenes Genie“ zu nennen pflegte. Aber diese Bezeichnung galt in noch viel höherm Grade von ihm selbst, wie er im Scherze mit den Worten zuzugeben pflegte, daß er früher rechnen als sprechen gelernt habe. Von einem angeborenen Zahlensinne gab er in der That bereits als ganz kleines Kind Beweise. Eines Sonnabends, als sein Vater den Maurergesellen ihren Wochenlohn mit Einschluß der nach Feierabend zur Arbeit verwandten Extrastunden laut vorgerechnet und eben an’s Auszahlen gehen will, ruft der noch nicht dreijährige Fritz mit seiner feinen Stimme aus dem ärmlichen Bettchen. „Vater, die Rechnung ist falsch; es macht so und so viel.“ Trotz der Winzigkeit des Einspruch-Erhebers wird die Rechnung wiederholt, und man findet mit allgemeinem Erstaunen, daß dem kleinen Rechenmeister ein Fehler aufgefallen war, den die Erwachsenen übersehen hatten.

Professor Sartorius von Waltershausen, der seinem Freundschaftsverhältniß zu Gauß in einer 1856 erschienenen Gedächtnißschrift ein schönes Denkmal gesetzt hat, berichtet aus des Gefeierten Munde noch ein andres Beispiel der aus einwohnender Anlage hervorgesproßten Zahlenmächtigkeit des Knaben. Kaum in die obere, sogenannte Rechenclasse der Katharinen-Volksschule seiner Vaterstadt vorgerückt, setzte er sich bei dem Rechenlehrer Büttner alsbald in Respect. Es war in der Rechenstunde üblich, daß der Schüler, welcher zuerst sein Exempel beendigt hatte, seine Schiefertafel auf einen großen Tisch legen mußte, auf diese der zweite die seinige und so fort. In einer der ersten Stunden gab der Lehrer die Summation einer arithmetischen Reihe als Aufgabe, aber kaum war dieselbe ausgesprochen, als Gauß, ohne von der nach damaliger Unterrichtsmethode unablässig nachhelfenden „Karbatsche“ des Lehrers geschreckt zu werden, seine Tafel mit den gleichsam verächtlichen Worten. „Ligget se!“ (da liegt sie!) auf den Tisch warf. Während die andern Schüler emsig weiter rechnen, multipliciren und addiren, geht der sich seiner Würde bewußte Lehrer auf und ab, von Zeit zu Zeit einen halb mitleidigen, halb sarkastischen Blick auf den kleinsten seiner Schüler werfend, der längst seine Aufgabe beendigt hatte. Dieser saß dagegen ruhig da, schon damals eben so sehr von dem festen unerschütterlichen Bewußtsein durchdrungen, welches ihn bis zum Ende seiner Tage bei jeder vollendeten Leistung erfüllte, daß seine Aufgabe richtig gelöst sei und daß das Endergebniß kein anderes sein könne. Schließlich wurden die Tafeln umgekehrt; diejenige von Gauß mit einer einzigen Zahl, und zwar der richtigen Endsumme, lag obenauf, während viele der übrigen unrichtig waren und mit der Karbatsche rectificirt werden mußten. Der Lehrer war einsichtsvoll genug, bald zu erklären, daß Gauß in seiner Schule nichts mehr lernen könne.

Inzwischen war demselben wesentliche Förderung zu Theil geworden durch die freudschaftliche Unterstützung eines in dieser Schule mit untergeordneten Pflichten betraueten jungen Hülfslehrers Namens Bartels, der sich für mathematische Studien interessirte, brauchbare Lehrbücher anschaffte und, seinerseits angeregt durch den Eifer des damals zehnjährigen Knaben, gemeinschaftlich mit demselben den Weg zur höheren Mathematik fand, der ihn selbst später auf einen Lehrstuhl der Universität Dorpat geführt hat, so daß sich die dem jüngeren Genossen erwiesene Unterstützung unmittelbar belohnte. Bartels, dem Gauß stets eine dankbare Freundschaft bewahrte, hat sich auch das weitere Verdienst erworben, mehrere hochgestellte Personen in Braunschweig, wie dem geheimen Etatsrath von Zimmermann und den Geheimrath von Feronce auf die ungewöhnlichen Gaben seines jungen Freundes aufmerksam gemacht zu haben, mit deren Unterstützung dann nicht nur für weitere Fortbildung gesorgt, sondern auch der Widerwille des Vaters gegen eine gelehrte Laufbahn überwunden wurde. Als elfjähriger Knabe kam Gauß (1788) auf das Katharinen-Gymnasium, bemächtigte sich hier mit so unglaublicher Schnelligkeit der alten Sprachen, daß er die Bewunderung aller Lehrer und Schüler erregte und nach zwei Jahren die Prima erreichte. Um diese Zeit wurde durch die obenerwähnten Gönner die Aufmerksamkeit des Herzog Karl Wilhelm Ferdinand auf den vielversprechenden jungen Mann gelenkt. Er wurde 1791 bei Hofe vorgestellt und gewann sofort die Gunst des edlen Fürsten, die ihm derselbe bis zu seinem unglücklichen Ende bewahrt hat. Wir sehen, wie uneigennützige Freundschaft und Theilnahme dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_278.jpg&oldid=- (Version vom 17.10.2020)