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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Begierden nur mittelst unarticulirter Laute zu erkennen gaben. Auch Conrad Schüttelndreyer aus Nienstädt bei Bückeburg, welcher bereits im Jahre 1813 von dem berühmten Physiologen Blumenbach abgebildet und als „Thiermensch“ bezeichnet wurde, kletterte gern auf Bäume und zerriß am liebsten Papier oder alte Lappen, welche man ihm reichte, in kleine Stücke.

Freilich sind diese von der wahren Menschen-Natur so weit abweichenden Wesen keine wirklichen Thiere oder Affen und könnten dies auch niemals sein, da es allen Gesetzen der Natur zuwiderlaufen würde, wenn der sogenannte Atavismus oder Rückschlag so verstanden werden wollte, als ob er bis zum vollständigen Wiedererscheinen uralter, längst ausgestorbener Stammformen führen könne oder müsse. Ein Mensch kann heutzutage ebensowenig einen Affen hervorbringen, wie ein Pferd seine Stammform aus der Pliocen-Zeit, das Hipparion, oder gar einen noch älteren Vorfahren, z. B. das Anchitherium. Dagegen kommt es häufig genug vor, daß Pferde geboren werden, welche den nicht in einen einzigen Huf, sondern in drei Zehenglieder auslaufenden Fuß des Hipparion durch den Besitz zweier seitlichen, mehr oder weniger verkümmerten Afterzehen wiederholen.

In ähnlicher Weise nun wiederholen die menschlichen Affenkinder einige Bildungen oder Eigenthümlichkeiten aus einer hunderttausende von Jahren hinter uns liegenden thierischen Vergangenheit des Menschen, ohne aber darum selbst Thiere oder Affen zu sein. Es sind regelwidrige Menschen mit einem verkümmerten oder auf einer früheren Stufe der Entwickelung stehengebliebenen Gehirn, welche eben deswegen nur halbe Menschen, aber auch nur halbe Thiere sind. Denn das Gehirn ist ja gerade dasjenige Organ, dessen vollkommenere Ausbildung und Entwickelung dem Menschen sein eigentliches Uebergewicht über das Thier verleiht und das ihn durch diese hohe Ausbildung erst zum wirklichen Menschen gemacht hat. Es ist daher auch in keiner Weise zu verwundern, daß eine den Menschen zum halben Thier herabwürdigende Verkümmerung oder Verunstaltung sich zumeist und vorzugsweise in diesem Organe äußert, während die übrigen Theile oder Organe des Körpers nur in geringerem Grade oder auch gar nicht betroffen werden. Daher können sie auch keine normalen, sondern nur abnorme oder fehlerhafte Wesen sein, da bei einem normalen Wesen, sei es Mensch oder Thier, alle Organe oder Theile in einem regelrechten Verhältniß unter einander stehen müssen.

Die so viel besprochene Lücke zwischen Mensch und Thier ist gewiß eine sehr große, namentlich in geistiger Beziehung, und wird als solche von Niemandem, auch nicht von den entschiedensten Anhängern und Vertretern der Abstammungslehre, geleugnet werden. Wenn man aber in dieser Beziehung einen Blick in die Thierwelt wirft, so überzeugt man sich sehr leicht, daß dort zwischen Thieren, an deren systematische Trennung kein Zoologe auch nur entfernt denkt, Lücken und Abstände bestehen, welche an Tiefe oder Weite jene Lücke zwischen dem Menschen und den ihm am nächsten stehenden Thieren weit hinter sich lassen. Man denke z. B. an Ameisen und Bienen, deren wunderbare, oft an das Fabelhafte streifende geistige Befähigungen und Leistungen der Verfasser dieses Aufsatzes erst vor Kurzem eingehend geschildert hat,[1] und vergleiche dieselben mit den Befähigungen und Leistungen eines der unintelligenten Käfer oder Schmetterlinge oder gar einer Schildlaus – Thieren, welche den sogenannten Immen ganz nahe stehen und mit in dieselbe Classe der Insecten gehören! Welch ein enormer Abstand ist hier zu bemerken! Auch bei den Ameisen und Bienen ist es, gerade so wie bei den Menschen, nur die starke Entwickelung und verhältnißmäßige Ausbildung ihres Gehirns, sowie die Differenzirung oder Ausbildung ihrer Organe, welche ihnen jenes enorme geistige, künstlerische und moralische Uebergewicht über ihre Mitwesen verleiht, das sie in so hohem Grade besitzen.

Kennten wir also auch nicht jene oben beschriebenen traurigen Geschöpfe, welche eine Mittelstellung zwischen Mensch und Thier einnehmen, wüßten wir nichts von niederen, wilden oder barbarischen Menschenracen, welche in ihrem ganzen Sein und Wesen dem Thiere oft näher stehen, als jenem Menschheitsideal, welches wir in der Regel im Kopfe haben, hätten wir keine fossilen Menschenreste gefunden, welche noch eine Stufe tiefer oder näher an die Thierwelt hinabweisen, und hätten wir keine gegründete Hoffnung, daß solche, die Lücke zwischen Mensch und Thier immer mehr verengernde Reste, sowohl nach thierischer, wie nach menschlicher Seite, im Laufe der Zeit aus den Tiefen der Erde werden hervorgeholt werden: – so würde doch jene Lücke, oder jener Abstand, von einem allgemeineren naturhistorischen oder naturphilosophischen Standpunkte aus betrachtet, an und für sich durchaus nicht jene tiefgreifende Bedeutung beanspruchen können, welche man ihr so oft von Gegnern der Descendenz- oder Abstammungslehre beilegen hört. Die genaueren Gesetze, nach denen die große Entwickelung und Fortbildung der organischen Welt vor sich geht und vor sich gegangen ist, sind ja noch zum größten Theile unbekannt, und jene Entwickelung kann in einzelnen Fällen gerade so gut und ohne Unterbrechung der natürlichen Reihenfolge sprungweise erfolgt sein, wie sie in vielen anderen Fällen ohne Zweifel einen ganz allmählichen und überaus langsamen Verlauf genommen hat.

Gegen die aus den mikrocephalen Menschen oder Menschenkindern hergeleitete Beweiskraft wird allerdings Mancher protestiren, indem er diese Geschöpfe einfach als „kranke“ bezeichnet und darauf hinweist, daß aus solchen krankhaften, der Regel sich entziehenden Abweichungen ein Schluß auf normale oder regelrechte Entwickelung nicht gezogen werden könne. Aber als „krank“ in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes können die hier bezeichneten Kinder doch nicht bezeichnet werden. Von Gretchen Becker z. B. sagte ihre Mutter ausdrücklich, daß sie noch niemals wesentlich krank gewesen sei, und an dem Gehirne oder Schädel der Helene Becker fand sich nach Professor Bischoff's Versicherung, wie schon angeführt wurde, keine Spur eines pathologischen oder krankhaften Processes vor, welcher als Ursache oder Veranlassung der großen Abnormität hätte angesehen werden können.

Allerdings fehlt es nicht an Mikrocephalen, bei denen solche krankhafte Ursachen mit Leichtigkeit nachgewiesen werden konnten, wie frühzeitige Verknöcherung der sogenannten Schädelnähte, welche die weitere Entwickelung des Gehirns mechanisch behindern, oder beträchtliche Verdickungen der harten Hirnhaut oder Anfüllung und Ausdehnung der sogenannten Hirnhöhlen durch Wasser oder Blutaustritte oder blasige, mit Wasser gefüllte Auftreibungen der sogenannten Spinnwebenhaut oder wässerige Durchfeuchtung der Gehirnsubstanz selbst, etc. etc. Aber von allem diesem war, außer einem starken, den Verhältnissen des neugeborenen Kindergehirns entsprechenden Wassergehalte der Gehirnsubstanz, an dem Gehirn der Helene Becker nichts aufzufinden, und namentlich waren die meisten Schädelnähte nicht verwachsen, sondern im Gegentheil so locker, daß die einzelnen Schädeltheile auseinander zu fallen drohten. Es war auch keine Erblichkeit nachzuweisen; es bestand keine Verwandtschaftsehe, und die englische Krankheit der Helene Becker trat erst in den allerletzten Lebensjahren ein. Also war es offenbar eine aus innerer und unbekannter Ursache hervorgegangene Bildungshemmung oder Hemmungsbildung des Gehirnes selbst, aber deren entferntere Veranlassung die Meinungen allerdings verschieden sein können, ohne daß man im Stande wäre, die atavistische Theorie oder die Erklärung durch theilweisen sogenannten Rückschlag in einen längst hinter uns liegenden, halb menschlichen, halb thierischen Typus mit bestimmten Gründen zurückweisen zu können. Wer aber auch dieser Theorie nicht zustimmt oder zuzustimmen Neigung hat, wird nicht leugnen können, daß jene halb thierischen, halb menschlichen Geschöpfe mit ihrer armseligen Gehirnbildung einen wahrhaft niederschmetternden Beweis gegen alle Diejenigen bilden, welche sich für berechtigt halten, dem menschlichen Geiste oder Seelenwesen eine besondere, für sich bestehende und von seinem materiellen Substrat oder dem Gehirn mehr oder weniger unabhängige Existenz während des Lebens einzuräumen.



  1. „Aus dem Geistesleben der Thiere oder Staaten und Thaten der Kleinen“ von Dr. Ludwig Büchner. Berlin, A. Hoffmann. 1876.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_282.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)