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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„Ja, auf Befehl des gnädigen Fräuleins. Sie läßt um Entschuldigung bitten –“

„Oeffne die Thür! Ich werde mit meinem Schwager sprechen,“ hörte man drinnen die würdevolle Stimme der Tante sagen, und die hagere Gestalt mit dem altjüngferlichen Anstande und dem feierlichen Gesichte erschien auf der Schwelle und wandte sich grüßend zu Urban, indem sie ein Nebenzimmer aufschloß.

„Würden Sie die Güte haben, sich einen Augenblick hier hinein zu bemühen, Herr Doctor?“

Und verdrießlich und verwundert zugleich horchte dieser einen Moment später wider Willen auf die leise geflüsterte Auseinandersetzung der Dame draußen, ohne etwas anderes zu verstehen, als ärgerliche Interjectionen des Commerzienrathes, welche dann und wann den Vortrag unterbrachen, bis die Beiden eiligen Schrittes in das Krankenzimmer gingen.

Urban stampfte ungeduldig die Dielen und musterte stirnrunzelnd die Blumen auf den herabgelassenen Rouleaux, durch welche die sinkende Sonne leuchtete. Plötzlich kam der Commerzienrath herein, ein Gemisch von Angst, Verdruß und Verlegenheit in den Mienen.

„Wie eigensinnig oft Krankheiten machen, Doctor!“ sagte er, und vermied es, Urban anzusehen. „Wollen Sie glauben, daß meine Tochter – wie soll ich mich ausdrücken – – sich genirt, Ihre ärztliche Hülfe in Anspruch zu nehmen?“

„Wie?“ fuhr der Doctor auf und trat einen Schritt näher, als hätte er nicht recht gehört.

„Es ist so. Eine Laune, eine ganz unbegreifliche Laune. Oder haben Sie irgend eine Erklärung dafür?“

In Urban empörte sich etwas; er hatte das Gefühl bitterster Kränkung. Aber er war in solchen Fällen weit entfernt nach Art empfindlicher Menschen sich zurückzuziehen.

„Ich darf wohl annehmen, daß Sie vernünftiger sind als Ihr Fräulein Tochter,“ warf er hastig hin. „Kommen Sie!“

Der Commerzienrath zauderte ein wenig, als der Arzt sich mit zorniger Entschlossenheit zur Thür wandte, und bewegte die Lippen, als wollte er eine Einwendung machen. Dann folgte er kopfschüttelnd.

Toni hatte das weiße Plumeau, zwischen dessen Bändern blaue Seide schimmerte, bis an den Kopf gezogen und das Gesicht der Wand zugekehrt, daß Urban nur die dunkeln, festgesteckten Flechten sah.

„Es ist jetzt keine Zeit, persönliche Abneigung geltend zu machen, Fräulein Toni,“ sprach er, und seine Stimme klang bitter und hart. „Sie haben nicht allein ein Anrecht an ihr Leben, und Sie müssen mir wenigstens ein paar Fragen erlauben, damit ich constatiren kann, ob augenblickliche Hülfe vonnöthen ist, oder ob ich es darauf ankommen lassen darf, daß ein Stellvertreter für mich, den Widerwärtigen, geholt wird. Im letztem Falle verzichte ich darauf, mich Ihnen als Arzt aufzudrängen.“

Sie regte sich nicht und antwortete nicht, aber Urban sah, wie ihr Ohr und ihr schlanker Hals in Röthe flammten.

Der Arzt kreuzte finster die Arme und nagte an der Unterlippe. Er hörte das Seidenkleid der Tante hinter sich rauschen.

„Was ist das für ein Benehmen, Kind!“ sagte strafend die sanfte Stimme der Dame. „Der Arzt ist ein Werkzeug des Himmels, dem man mit Achtung und Ehrfurcht, aber nicht mit Mädchengrillen begegnen soll.“

Urban gab plötzlich die wartende Haltung auf. Er nahm die feine schlanke Hand, die auf dem Plumeau lag, und er fühlte keinen Widerstand, als er nach dem Pulse suchte; dann beugte er sich hinüber und betrachtete das glühende Gesicht. Die Augen waren matt geschlossen und die langen seidenen Wimpern berührten die Wangen. Er merkte, daß sie den Athem anhielt.

„Sie sollen Ihren Willen haben,“ flüsterte er, sich tief zu ihrem Ohre neigend. „Leben Sie wohl, mein Fräulein!“ fügte er laut hinzu, indem er sich aufrichtete und der Tante zunickte. „Sie haben wohl die Güte, mich die Treppe hinab zu begleiten, Herr Commerzienrath.“

„Wie ist’s, Doctor?“ fragte der Letztere draußen. „Darf ich aus Ihrem Benehmen einige Hoffnung schöpfen?“

Die Blicke des Arztes ruhten mit erheuchelter Kälte auf dem kleinen, ängstlichen Manne an seiner Seite. „Ich bin entbehrlich,“ sagte er gleichgültig; „von Cholera ist hier keine Rede, und Sie haben vollkommen Zeit, zu einem meiner Collegen zu schicken. Es ist wahrscheinlich, daß eine Fieberkrankheit im Anzuge ist. Wie lange klagt die Kranke schon?“

„Sie war nicht ganz wohl, als sie von einem Besuche in der Erlenfuhrt zurückkehrte, den ich ihr vor einiger Zeit verstattete. Dann aber hat sie nicht geklagt bis jetzt.“

„Sie wird sich in dem feuchten Thale eine Erkältung zugezogen haben,“ meinte Urban nachlässig.

Sie waren bei der Hofthür angelangt, und der Doctor blieb stehen und sah seinen Begleiter mit flammenden Augen an.

„Meine Thätigkeit in diesem Hause ist zu Ende,“ brach es grollend aus ihm hervor: „Ich bin nicht gewohnt, daß man der Ausübung meiner Berufsthätigkeit solche Schwierigkeiten in den Weg legt. Entweder ich bin allgebietend in dieser Ausübung, oder ich bin nicht in der Lage, die volle Verantwortung zu tragen, und in diesem Falle verzichte ich darauf, Arzt zu sein. Ich empfehle mich Ihnen, Herr Commerzienrath!“

„Bleiben Sie, Doctor!“ rief die flehende Stimme des alten Herrn hinter dem Davoneilenden her – „haben Sie ein wenig Nachsicht –“

Umsonst. Urban hatte den Hut trotzig in die Stirn gedrückt und ging mit weiten Schritten und leise zwischen den Zähnen pfeifend an der harrenden Equipage vorbei, ohne auch nur zu Johannes auf dem Kutschbocke empor zu sehen, der ihm mit verwundertem Brummen nachblickte. Er hatte bereits die halbe Straße nach der Brücke hin zurückgelegt, als der Wagen ihn einholte, und er athmete mit zorniger Befriedigung auf, daß derselbe an ihm vorbeirasselte.

Es giebt Stimmungen, welche jezuweilen bei jedem geistig bedeutenden, ringenden und strebenden Menschen eintreten und jede Empfindung von Glück ausschließen. Irgend ein tief berührender Mißerfolg, ein ganz besonders unangenehmer Zufall pflegt die Veranlassung zu sein, und in seinem Schatten wachen die Geister aller Verdrießlichkeiten auf, deren Spuren im Herzen noch nicht völlig vernarbt sind, und halten einen Hexensabbath ab. Diese sonnenlosen, widrigen Stimmungen erzeugen dem darunter Leidenden ein Gefühl des Lebensüberdrusses, der Feindschaft gegen sich selbst und gegen die ganze Welt.

So war es Urban zu Muthe. Alles, was ihm in der letzten Zeit mißglückt war, stellte sich plötzlich in seiner Erinnerung neben einander und ließ sich nicht bannen: sein fruchtloser Kampf um Emilie, seine vergeblichen Anstrengungen, um Zehren zu schädigen, der erstickte Revolteversuch. Die Verbindung mit seinen alten Freunden war gelockert, um nicht zu sagen zerrissen; überall begegnete er feindlichen, abstoßenden Empfindungen; selbst dieses reizende, originelle Pathenkind der Grazien, das er auf dem Krankenlager verlassen, kündigte ihm die Freundschaft auf. Warum? Es war wohl das leidenschaftliche, bis zum Verbrechen leidenschaftliche Va-banque-Spiel in der Erlenfuhrt, das den Widerwillen gegen ihn in ihr wachgerufen hatte; er konnte kaum daran zweifeln.

Eine leise Stimme mahnte ihn zur Demuth, zur Umkehr, zum Neubau seiner Beziehungen zu der Welt, die ihn umgab, aber sein Trotz setzte dem stillen Mahner den Stiefelabsatz auf den Kopf und zertrat ihn. „Gegen eine Welt!“ sagte er bei sich. „Ich beuge mich nicht.“

Er bog in die Canalstraße ein. Vor dem Hornemann’schen Hause stand eine Ansammlung von Leuten, und als er näher kam, konnte er in den Gesichtern die ganze Scala von der trüben Bekümmerniß bis zur verzerrten Angst wahrnehmen. Viele dieser Gesichter kannte er, und er blieb einen Moment stehen.

„Was treibt Ihr hier? Was geschieht in diesem Hause?“

„Herr Hornemann hat ein Mittel, das gegen die Cholera hilft – er hat schon ein paar Kranke gesund gemacht –“ tönte es im Chorus, und ein paar Namen wurden genannt.

„Ah, die Arznei!“ sagte Urban überrascht, und in Gedanken sah er die Flaschen vor sich, die der Pascha ihm einst in die Wohnung gebracht und welche noch unberührt in der Schublade lagen. Ein inneres Verlangen trieb ihn an, treppauf zu steigen zu dem einstigen Freunde, um Näheres zu erfahren. Dann zuckte er die Achseln und ging mit scheinbarer Gelassenheit über den Steg; seiner Wohnung zu.

„Es ist vorüber zwischen uns,“ sprach er bei sich selber; „er hat es so gewollt, und ich habe noch nie um Freundschaft gebettelt.“ –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 307. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_307.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2019)