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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


und Entbehrungen ertragen. Bei solchen Einwirkungen bildet man feste Entschließungen, leitet das Kind gewohnheitsmäßig zur Bekämpfung dieser in dem zarten Alter vorwaltenden, die edleren Regungen vernichtenden Triebe an und stählt hierdurch seine Kraft zur Ausübung kindlicher Tugenden. Unter der leitenden Hand der Liebe bricht nun die Ahnung von seinem Gotte in dem Kinde auf.

Ein einfaches Morgen- und Abendgebet, das die Mutter bis dahin vor dem Kinde betete, beten sie jetzt in Gemeinschaft. Besser, als ich es Ihnen sagen kann, fühlen Mütter und Erzieherinnen die Größe eines solchen Augenblickes. Das Heiligste läßt sich eben nicht in Worte fassen und soll in dem Heiligthume des Kindesherzens feste, unausreißbare Wurzeln schlagen.

Liebe, Vertrauen, Verträglichkeit, Unterordnung unter das verständige Gebot, Milde und Freundlichkeit gegen Dienstboten, Theilnahme für die Armen und Freude, ihnen von dem eigenen Besitze mittheilen zu können, das sind die Tugenden, die den Charakter des Kindes schon in den ersten Jahren des Lebens zu einem sittlichen machen sollen, und die das, was Pestalozzi so treffend mit dem Namen „Kraftbildung“ bezeichnet, erzeugen.

Und das Mittel, dem Kinde die Grundzüge eines solchen Charakters recht tief einzuprägen, es auszurüsten mit jener Tüchtigkeit, die es nöthig hat, um in den Kämpfen des Lebens sich selbst nicht zu verlieren, um sich zu stählen gegen die An- und Eingriffe des Schicksals, die Keinem, auch dem Glücklichsten nicht, erspart bleiben – es ist die Arbeit. Wir haben die Liebe zu ihr von dem Augenblicke an, wo das Kind fähig ist zu arbeiten, in ihm zu pflegen.

Mit dieser Forderung, die ich als eine der wesentlichsten für die Charakterbildung des Kindes hinstelle, hat zugleich der Kindergarten seine Berechtigung neben der Familienerziehung. Er soll die Mutter nicht der Pflichten gegen ihr Kind entheben, nein – er soll sich anschließen an eine solide, von Mutterliebe und verständiger väterlicher Einwirkung getragene Familienerziehung und das dem Kinde reichen, was keine Familie bieten kann: eine regelmäßige Arbeit in Gemeinschaft gleichalteriger Genossen.

Wie die Arbeit uns gesund, fröhlich, zufrieden macht, wie sie Völker, Nationen zur sittlichen Kraft, zur Einheit und Stärke erzieht, so ist sie das Mittel, durch welches Familie und Kindergarten Hand in Hand gehend, auf die Charakterbildung des Kindes wirken sollen.

Diesen Segen einer regelmäßigen Körper und Geist bildenden Arbeit will der Kindergarten früh schon dem Kinde zu Theil werden lassen, will, indem er kindliche Beschäftigungen pflegt, den Zögling nicht allein vor den schädlichen Folgen der Langeweile bewahren, sondern bei ihm den Grund zu einer allseitigen Ausbildung der gesammten Kräfte legen. Und ein wesentlicher Hebel dieser harmonischen Gestaltung des kindlichen Wesens ist die Gesundheit. Der gute, unter umsichtsvoller Leitung stehende Kindergarten wird darum vor Allem dem körperlichen Leben des Kindes eine eingehende Pflege angedeihen lassen.

Luft, Licht, Bewegung heißen die Factoren, vermittelst deren wir diese Aufgabe lösen.

Deshalb schöne luftige Räume, Spaziergänge hinaus in’s Freie, und vor Allem körperliche Arbeit im Freien. Die Kindergärtnerin hat mehr, als dies bisher im Allgemeinen geschehen ist, mit ihren Kindern zu säen, zu pflanzen, Gartenanlagen zu machen, Hütten zu bauen, Thiere zu pflegen, hat überhaupt die Kleinen so zu diesen Arbeiten anzuleiten, daß sie wirkliche Resultate aus denselben hervorgehen sehen. Ein kleines Terrain, welches das Kind als das seinige bearbeiten und bebauen muß, wird hier einen Anziehungspunkt bilden, der seine Beschäftigung ihm zu einer freudigen und angenehmen macht. Neben einer erhöhten Herz- und Lungenthätigkeit, einer normalen Blut- und Muskelbildung, erwächst aus dieser Beschäftigung die Liebe zu und die Freude an der Arbeit, die kein Kind, selbst das vornehmste nicht, auch nicht das des Fürsten schändet, sondern die fröhliche Augen, frische Wangen, kräftige Arme und flinke Beine schafft.

Nach solcher Arbeit schmeckt das Frühstück, das, im Kindergarten in Gemeinschaft genossen, dem Kinde ein Labsal ist. Da werden keine Leckerbissen gereicht noch geduldet, und hier könnte, so glaube ich, manche Mutter lernen, daß das Verlangen des Kindes nach unregelmäßiger und schwerverdaulicher Nahrung nur der Ausdruck der Langeweile ist, daß aus diesem Uebelstande aber nicht allein körperliches Unwohlsein, sondern auch der Zustand entsteht, den Hippel so richtig beim Kinde „den Schnupfen der Seele“ nennt. Das weiß die verständige Kindergärtnerin, die den Trieb des Kindes, sein inneres Leben zu veräußerlichen, kennt und ihm, nach stattgehabter Ruhe und Erholung, neue Nahrung reicht.

Eines der reizenden Bewegungsspiele, in denen neben körperlicher Gewandtheit auch die verschiedenen Sinnesthätigkeiten und die Sprachfähigkeit des Kindes entwickelt werden, beginnt, oder die Zöglinge eilen an ihre kleinen Tische, wo ebenfalls die Arbeit ihrer harrt, bei der sie Hand und Finger geschickt machen, und durch welche sie sich und Anderen Freude bereitet sollen.

Hier wird nicht dem Principe der sogenannten guten Kindermädchen oder Bonnen gehuldigt, dem Kinde mit läppischen Spielereien die Zeit zu vertreiben, sondern die in des Kindes Wesen verständig blickende Erzieherin weiß, daß in diesen Arbeiten eine versittlichende und bildende Kraft liegt.

Indem das Kind das Schöne, das Harmonische selbst gestaltet, läßt es dasselbe einziehen in seine Seele und erarbeitet sich Anschauungen, welche die niederen Triebe unterdrücken und es sanfteren Regungen und Gefühlen zugänglich machen.

Ich könnte Ihnen aus meiner langjährigen Erfahrung hunderte von Beispielen anführen, die den Beweis liefern, daß rohe, unerzogene oder verbildete Kräfte auf diesem Wege allmählich in ein harmonisches Gleichgewicht gebracht worden sind.

Ein guter Kindergarten muß daher immerhin Ansprüche, wenn auch maßvolle, an die Kindeskraft machen, Leistungsfähigkeit schon bei den Kleinen hervorrufen, nicht zu viel und zu vielerlei den Kindern bieten, aber alle Erziehungsmittel auf ein einheitliches Ziel – auf die Selbstthat lenken.

So wirkt er diätetisch auf Körper und Geist, bildet gesunde Kinder, und aus der Gesundheit erwächst denselben Kraft und Entschließung zur sittlichen That. Diesen Segen empfindet auch das Kind unbewußt; deshalb eilt es, auch wenn es schon in der Familie nach bestimmten Grundsätzen erzogen, so gern und so freudig der Stätte zu, wo es die empfangenen häuslichen Eindrücke und Anschauungen in der Gemeinschaft, diesem wesentlichen Factor zur Pflege des Charakters, bethätigen kann; denn des Kindes Leben ist Thätigkeit, und nur das einseitig erzogene Kind gewöhnt sich zagend an diese kräftige Atmosphäre. Aber um so nothwendiger ist dann eine sorgsame Pflege der noch unentwickelten Seiten seines Charakters. Und hier thut eine ruhige Arbeit, von der Kindergärtnerin mit milder Freundlichkeit vorgeschrieben und überwacht, Wunder. Während sie dem herrschsüchtigen, wildanstürmenden, leidenschaftlichen Charakter Mäßigung und Beschränkung lehrt, macht sie das schüchterne, unselbstständige Kind selbstvertrauend und muthvoll, läßt es seine Anlagen erkennen und sie für seine vielseitigere Ausbildung verwerthen. So segnet planvolle Arbeit das kluge Bemühen.

Ueberall gestaltet sie maßvoll und deshalb harmonisch; „denn,“ sagt Goethe, „nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich“. In solchem Sinne charakterbildend, wirkt der Kindergarten aber sicherlich auch auf die Familie segensvoll zurück, indem er die Eltern auffordert, mit seinen Grundsätzen Hand in Hand zu gehen und mit der Elternliebe eine der Kindesnatur angemessene diätetische Behandlung zu verbinden. Zugleich soll er jedoch durch seine Einwirkung auf die Charakteranlagen der Zöglinge diese tüchtig machen, sich schon in früher Jugend in einer sittlichen Gemeinschaft einen Platz, ein Feld nützlicher Thätigkeit zu erobern.

Mit solchen Principien ist er dann gewiß werth, als eine Basis der Schule angesehen zu werden, die es sich zur Aufgabe macht, Jünglinge und Jungfrauen in das Leben hinaus zu senden, welche nicht allein ihren Geist an veredelnden Kenntnissen bereichert haben, sondern die zugleich zu selbstständigen, mit weiser Beschränkung und sittlicher Würde handelnden Menschen erzogen sind. Charaktere verlangt das Leben, verlangt der Staat von seinen Bürgern. Nur dann wird auch unser deutsches Vaterland seine innere Größe und Einheit gewinnen und erhalten, wenn Familie, Kindergarten und Schule geistes- und charakterstarke Bürger und Bürgerinnen erziehen, Menschen, die wissen, was sie wollen und thun, was sie sollen, die Wahrheit und Sitte üben, die Schönheit und Tugend pflegen, die ihre volle Kraft daran setzen, Menschen im wahren Sinne des Wortes zu sein.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_315.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)