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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

gewesen, auch auf diesem Gebiete Bahn zu brechen, seitdem man zu der einfachen Erkenntniß gekommen war, daß der Blinde ein ebenso bildungsfähiger wie bildungsbedürftiger Mensch ist. Auf Grund dieses für die Blinden wie für die Nationalökonomie wichtigen Satzes entstanden besondere Bildungsanstalten, deren erste Anregung wir unseren westliche Nachbarn, den Franzosen, zuerkennen müssen. Valentin Hauy, Lehrer in Paris, sprach zuerst den großherzigen Gedanken aus, daß der Blinde, den man bis dahin als wissenschaftlicher Bildung wenig oder gar nicht zugänglich zu erachten gewöhnt war, auf die Theilnahme an dem Gemeingute der Civilisation Anspruch zu erheben berechtigt sei. Auf persönliche Anregung Hauy’s gründete der gelehrte Professor Dr. Zeune 1806 die preußische Central-Blinden-Anstalt. Nachdem dieselbe circa siebenzig Jahre segensreich gewirkt und schließlich in ihren äußeren Einrichtungen den Anforderungen nicht mehr genügen konnte, wurde ein Neubau beschlossen. Es darf als ein höchst glücklicher Gedanke bezeichnet werden, daß das neue Gebäude, welches Anfangs dieses Jahres beendet wurde, nicht wieder inmitten des Häusermeeres der Residenz erstand, sondern nach dem sieben Kilometer südwestlich von der Stadt gelegenen Dorfe Steglitz verlegt wurde.

Um der neuen Anstalt einen Besuch abzustatten, begeben wir uns nach dem Potsdamer Bahnhofe und benutzen von hier einen der fast stündlich abgehenden Züge. In circa fünfzehn Minuten ist das Ziel erreicht. Das Dorf Steglitz hat sich während der letzten Jahre bedeutend vergrößert und verschönert. Zu den prächtigsten Bauten gehört jetzt, abgesehen von einigen recht geschmackvollen Villen, die neue königliche Blinden-Anstalt. Dieselbe liegt, wenige Minuten vom Bahnhofe entfernt, in dem ehemaligen Schloßpark an der Rothenburger Straße. Auf dem acht Morgen großen, mit alten prächtigen Bäumen bestandenen Grundstücke erheben sich die drei aus rothem Ziegelstein aufgeführten Gebäude, denen durch den dahinter sanft aufsteigenden Wald mit seinem frischen Grün ein malerischer Hintergrund verliehen wird.

Das in der Mitte befindliche Hauptgebäude hat eine Front von fünfundfünfzig Meter und ist mit allen praktischen Erfindungen der Neuzeit, sowohl in Bezug auf die innere Einrichtung, wie auf das Blindenwesen, versehen. Hierzu hat der Anstalts-Director Rösner, im Auftrage der königlichen Regierung, Reisen nach den größeren Instituten Deutschlands und des Auslandes unternommen, mit Kennerblick das Beste und Erprobteste studirt und in der neuen Anstalt zur Geltung gebracht. Dieselbe ist keine Heilanstalt für Augenkranke, sondern eine Unterrichts- und Erziehungsanstalt; diejenigen Blinden, welche dem Institut zugeführt werden, sind sämmtlich unheilbar.

Schon beim Eintritt durch die Gartenpforte umfängt uns das sichere Gefühl des Wohlbefindens und glücklicher Zufriedenheit, welches bei eingehenderem Studium nur gehoben und gekräftigt wird. Das Institut (Internat), welches für hundert Zöglinge Raum gewährt, zählt augenblicklich erst circa die Hälfte. Die meisten der Blinden verbleiben in derselben von dem sechsten, resp. siebenten Jahre bis zu ihrer Confirmation, besonders Befähigte indeß bis zum neunzehnten und zwanzigsten Jahre, und genießen entweder die Benefizien einer der vierundzwanzig Freistellen, oder zahlen sechshundert Mark jährliche Pension. Fragen wir zunächst nach den Ursachen der Blindheit, so ergiebt sich die ebenso überraschende wie zu beherzigende Thatsache, daß die meisten der Zöglinge nicht zu den Blindgeborenen sondern zu den Blindgewordenen gehören. Die ersteren sind höchst selten und zu den letzteren liefert, was auch von anderer Seite oft warnend mitgetheilt worden ist, die Augenentzündung der Neugeborenen (Ophthalmia neonatorum) ein bedeutendes Contingent. Wir enthalten uns absichtlich der diese Behauptung bestätigenden statistischen Tabellen, rufen aber an dieser Stelle allen Müttern und Kinderpflegerinnen zu, bei jedem eintretenden Augenübel der Kleinen nicht den Weisungen einer angeblich klugen Nachbarin oder quacksalbernden Alten zu folgen, sondern sofort die energische Hülfe eines tüchtigen Arztes in Anspruch zu nehmen.

Ein erheblicher Procentsatz der Blinden verdankt sein mangelndes Augenlicht der Nachlässigkeit und, wir wollen milde urtheilen, der Unwissenheit der Eltern. Manche der Schüler des königlichen Blinden-Instituts erzählen uns die Veranlassung ihrer Blindheit. Der Eine weiß noch ganz genau, wie er an einem schönen Sommertage eine Glasflasche auf einem Steine zerschlug, deren Stücke ihm beide Augäpfel zerrissen und ihn in dunkle Nacht hüllten; ein Anderer wollte in kindlicher Neugier das Innere einer kleinen Steinkugel (Murmel) untersuchen, wobei ihm beim Zertrümmern derselben ein Splitter in das rechte Auge fuhr, dessen unheilbarer Zustand sich in kurzer Zeit auch auf das linke übertrug; ein blondlockiger Knabe verlor sein Augenlicht während einer Schulstunde, indem ihm sein Nachbar aus Unvorsichtigkeit einen Schlag gegen die Stirngegend versetzte. Doch forschen wir nicht weiter nach den Ursachen des Uebels! Bei dem reichen und tiefen Gemüthsleben aller Blinden ist es eine erklärliche Erscheinung, daß der Einzelne nicht gern von seiner Blindheit spricht, und – wir legen Allen, die mit Blinden verkehren, dies an’s Herz – nicht bedauert und bemitleidet sein will. Begleiten wir jetzt unsere kleinen Freunde, die sich von unserer Uhrkette, unsern Händen und Kleidern durch Betasten mit den Fingerspitzen gern eine Vorstellung machen, auf ihrem Tagewerke und ihrer Tagesfreude! Morgens sechs Uhr, beziehungsweise einhalb sieben Uhr, ertönt eine weithin schallende Glocke, welche Alle zum Aufstehen ermahnt. Unter specieller Beaufsichtigung des betreffenden Anstaltspersonals geschieht dies sofort. Nach beendigter Morgentoilette und nachdem die Erwachsenen ihre Betten in Ordnung gebracht haben, begeben sich Alle hinunter in den Speisesaal. Einzelne finden den Weg durch Corridore und Treppen mit einer Sicherheit, welche die durch das ganze Gebäude angebrachten Leitstangen für sie überflüssig macht. Befreundete wandern Arm in Arm, und es gewährt einen unbeschreiblich rührenden Anblick, wenn ältere Schüler Neulinge auf den rechten Pfad führen.

Endlich befinden sich sämmtliche Zöglinge auf ihren bestimmten Plätzen, die Mädchen links, die Knaben rechts; auf ein gegebenes Glockenzeichen erheben sich Alle, um nach einem kurzen Gebete ihr Frühstück einzunehmen; es besteht in süßem Kaffee und zwei „Schrippen“ im Gewichte von hundertsechszig Gramm. Unter freundlichen Gesprächen verfliegt eine halbe Stunde, worauf sich sämmtliche Schüler und Schülerinnen durch gesonderte Ausgänge nach ihren Zimmern begeben. Der Gang nach dem Speisesaale wird im Laufe des Tages zum Einnehmen der Mahlzeiten viermal unternommen.

Nach dem sehr richtigen Grundsatz, den Blinden in beständiger Thätigkeit zu erhalten und nicht einem schädigenden Hinbrüten zu überlassen, ist die Unterrichtszeit mit den entsprechenden Erholungspausen auf den ganzen Tag vertheilt. Der Unterricht zerfällt in drei Theile: 1) Lehrgegenstände der Volksschule mit Ausschluß des Zeichnens, 2) industrieller Handarbeitsunterricht und 3) ein eventuell bis zu höchster Vollendung führender Musikunterricht. Wenn schon nach dem Ausspruch eines bedeutenden Pädagogen beim Unterrichten und Erziehen vollsinniger Kinder „wie beim Ausbrüten der Kücklein Stille und Wärme nöthig ist“, so tritt diese Anforderung in erhöhtem Maße an den Blindenlehrer heran. Eine Blindenclasse, in der stets Knaben und Mädchen auf getrennten Plätzen gemeinschaftlich unterrichtet werden, bietet dem Besucher einen eigenthümlichen und zugleich erfreulichen Anblick. Zwar lachen dem Lehrer nicht fröhliche Kinderaugen entgegen, denn die Augenhöhlen der Schüler sind entweder geschlossen oder zeigen nur starre, pupillenlose Augäpfel, aber trotzdem stellt das Ohr, dieses zu erstaunlichen Leistungen fähige Organ, zwischen Lehrer und Schüler ein so inniges Band des Verständnisses, der Freundschaft und Anhänglichkeit her, wie es nicht schöner gedacht werden kann. Der Lehrer ist das erleuchtende und erwärmende Gestirn, zu dem sich das liebebedürftige Kindergemüth gleich wie die Blume zur Sonne hinneigt. Doch mit welchen Schwierigkeiten ist der Unterricht verknüpft!

Erfahrungsmäßig entstammen die meisten blinden Kinder den ärmeren Bevölkerungsschichten, wo in gar vielen Fällen den Eltern unter dem Drucke harter Arbeit und niederdrückender Sorgen Luft und Befähigung für ihre natürlichen Erzieherpflichten verloren gehen. Das unglückliche Wesen verbringt in Folge dessen seine ersten Lebensjahre in dumpfem Stillsitzen; an Stelle der lebensvollen Entwickelung, wie wir sie bei dem sehenden Kinde beobachten, tritt hier ein todtes Vegetiren. Die königliche Blinden-Anstalt erhält nicht selten Schüler, die leiblich und geistig auf

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_350.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)