Seite:Die Gartenlaube (1877) 363.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Perioden von nicht ganz sechseinhalb Stunden aufeinanderfolgen, wie es wirklich der Fall ist.

Die Höhe des Fluthberges steht natürlich unter dem Einfluß localer Verhältnisse und ist, je nach der herrschenden Windrichtung und Windstärken sogar für denselben Ort verschieden. Während im offenen Meere die Fluthhöhe nur etwa einen Meter beträgt, steigert sie sich in Meeresengen und Buchten ganz außerordentlich, und die sogenannten Springfluthen zur Zeit der Neu- und Vollmonde, wo die Richtung der Mond- und Sonnenanziehung zusammenfällt, erreichen an manchen Küsten eine Höhe von zwölf Metern. In der Fundy-Bai, auf der südöstlichen Küste von Britisch-Nordamerika, sollen sogar Springfluthen von dreiundzwanzig Meter Höhe beobachtet worden sein. Die ganze Wassermasse, welche durch die Fluth auf ein Viertel der Erdoberfläche übergeführt wird, welche vorher Ebbe gehabt hat, beträgt nach Berechnungen etwa zweihundert Cubikmeilen, und man kann sich eine Vorstellung von der Mächtigkeit des ganzen Vorganges machen, wenn man bedenkt, daß diese ganze Masse binnen sechseinhalb Stunden auf ein anderes Viertel der Erdoberfläche hinüberströmen muß.

Denn es würde bald ein Zustand des Gleichgewichts, der Ruhe eingetreten sein, wenn nicht die Achsendrehung der Erde den eben gebildeten Wasserberg nach Osten weiterführte, sodaß andere Gegenden dem Monde am nächsten kommen und nun hier durch die ununterbrochen wirkende Anziehung neue Wassermassen zusammen- und emporgezogen werden, wobei zu allernächst der nach Osten gerückte Wellenberg verflacht und zerstört wird. Dieser ganze Vorgang verläuft aber nicht ohne vielfache Reibungen und Widerstände, da sowohl ruhende an in Bewegung gekommenen Wassertheilchen, wie auch letztere untereinander sich reiben, ferner auch die größeren Strömungen an Küsten und Buchten des Festlandes vielfach gehemmt werden. Deshalb tritt die größte Erhebung des Wassers auch erst ein, nachdem sich die Fluthgegend schon während zwei und einer halben Stunde vom Monde ostwärts entfernt hat, und ist dem entsprechend für einen bestimmten Ort die Fluth am höchsten, wenn der Mond von ihm schon zwei und eine halbe Stunde lang in seinem scheinbaren Laufe nach Westen fortgewandert ist.

So ist denn der Wasserstand ostwärts vom Monde allezeit ein höherer als westwärts, und da zugleich die Gewässer dem Monde nachstreben, so müssen sie nothwendig stärker gegen Westen fließen und drängen, als gen Osten. Das heißt: Ebbe und Fluth ruft nicht allein ein fortwährendes Steigen und Fallen des Wassers hervor, sondern auch einen allgemeinen Strom des Oceans gegen Westen.

Derselbe ist übrigens durch die Erfahrung längst nachgewiesen, und zu dessen Erklärung reicht die Einwirkung des Ostpassats, jener regelmäßigen Luftströmung innerhalb der Wendekreise, welche ebenfalls einen Weststrom des Meeres hervorrufen muß, durchaus nicht aus. Denn derselbe findet sich auch in Gegenden, wo kein Passat weht oder gar westliche Winde vorherrschen. Auch müßte nach den Gesetzen über die Strömungen, wie solche durch die ungleiche Erwärmung des Meeres auf der sich drehenden Erde verursacht werden, ein westöstlicher Strom zu constatiren sein. Daß aber trotzdem die Richtung desselben eine entgegengesetzte ist, beweist unzweifelhaft den überwiegenden Einfluß von Ebbe und Fluth.

Dieser Weststrom des Oceans übt aber einen Druck gegen die Drehung der Erde aus. Es wird dies anschaulicher, wenn man sich vorstellt, wie z. B. der Strom des atlantischen Oceans sich an den Ostküsten Nordamerikas aufstauen und gegen ihre Bewegung nach Osten sich anstemmen muß, oder wenn man sich die Erde unter dem Bilde eines Schwungrades denkt, welches die widerstrebenden Wassermassen mit sich fortführt, wobei aber ein bestimmter Theil der Rotationskraft aufgewendet werden muß. Dies heißt aber nichts Anderes, als: Ebbe und Fluth führt eine Verlangsamung der Rotationsgeschwindigkeit der Erde herbei.

Während jetzt der regelmäßige Verlauf der Ebbe und Fluth durch das Festland, welches ungefähr ein Drittel der Erdoberfläche ausmacht, mannigfach gestört wird, war solches nicht der Fall, als die Erde noch ein feurig-flüssiger Ball war. Auch der Mond war einst eine geschmolzene, sich um ihre Achse drehende Masse, so daß auch auf ihm ein Ebben und Fluthen von Gluthwellen stattgefunden hat, nur wegen der größeren Masse der anziehenden Erde in so großer Mächtigkeit, daß die Rotationskraft des Mondes bald aufgezehrt werden mußte. Wir brauchen uns deshalb nicht zu wundern, wenn uns unser Trabant stets dasselbe Gesicht zudreht.

Aber die Betrachtung jener Perioden, in welchen auch unsere Erde geschmolzen war, führt zu einer wichtigen Überlegung. Ist nämlich auch jetzt die unzweifelhaft fortschreitende Abkühlung des Erdballs zu einem kaum nennenswerthen Grade herabgesunken, so mußte dieselbe doch eine weit raschere sein, als derselbe noch glühend war. Wie nun jeder erkaltende Körper sich zusammenzieht, so hat auch eine Verminderung des Umfangs der Erdkugel eintreten müssen. Nach mechanischen Gesetzen erfährt nun aber die Umdrehungsgeschwindigkeit eines Körpers eine Beschleunigung, wenn sein Volumen sich vermindert, und so hat in jenen Zeiten einer rasch fortschreitenden Erkaltung auch die Erde sich rascher und rascher drehen müssen. Es müßte dies auch in unsern historischen Zeiten noch immer der Fall sein, wenn nicht mit Eintritt der Ebbe und Fluth des entstandenen Oceans ein verzögerndes Moment sich geltend gemacht hätte, welches nicht nur die Beschleunigung allmählich aufheben, sondern auch fernerhin die Geschwindigkeit der Achsendrehung vermindern muß.

Wir können zur bequemern Uebersicht des ganzen Verlaufs drei Perioden bezüglich der Drehung unserer Erde unterscheiden: eine erste mit wachsender, eine zweite mit gleichbleibender, eine dritte mit abnehmender Geschwindigkeit. Dem entsprechend ist die Dauer des Sternentags eine sich vermindernde, eine gleichbleibende und eine zunehmende. Wir sehen also, mit dem absolut guten und richtigen Gange unserer Weltuhr sieht es mißlich aus, denn sie läuft anfangs vor, dann ein Weilchen richtig, dann mehr und mehr nach. Wer aber Angesichts der fatalen letzten Phase mit Bangen fragt, ob sie nicht noch gar stehen bliebe, dem müssen wir antworten: Leider nur zu wahrscheinlich! Es müßte denn das Meer einfrieren und damit Ebbe und Fluth unmöglich werden. Aber es wäre dann unsern Nachkommen ganz gleichgültig, ob die Weltuhr noch ginge oder nicht, denn das Eis würde ihnen dann im wahren Sinne des Wortes über den Kopf gewachsen sein und allem organischen Leben ein kaltes Grab bereitet haben.

Der Druck, welcher durch Ebbe und Fluth des Meeres der Drehung der Erde entgegengesetzt wird und in jedem Augenblicke überwunden werden muß, kann selbstverständlich seiner Größe nach nur annähernd bestimmt werden, wegen der durchgreifenden Verschiedenheiten in den localen Verhältnissen. Er beträgt bei niedrigster Schätzung die Kleinigkeit von 6000 Millionen Pferdekräften, gleich einer Kraft, welche in jeder Secunde eine Last von 464,000 Millionen Kilogramm Gewicht einen Meter hoch zu heben vermag! So ungeheuer auch diese Größe, nach menschlichem Maße gemessen, erscheinen mag, so ist sie doch in der That eine Kleinigkeit gegen die Kraft, welche die sich drehende Erde repräsentirt. Denn durch diese vermöchte man 25,840 Quadrillionen Kilogramm in jeder Secunde einen Meter hoch zu heben. Es ist diese Größe im Vergleich zur erstern wieder so ungeheuer, daß sie durch den Gegendruck von Ebbe und Fluth in einem Zeitraume von 2500 Jahren erst um etwa den siebenhunderttausendsten Theil vermindert wird.

Es ist offenbar von großem Interesse zu bestimmen, in welcher der oben aufgestellten Perioden der Achsendrehung unserer Erde wir uns befinden. Man hat erst in neuerer Zeit diese Frage beantworten können: wir sind schon eingetreten in die dritte und letzte Phase, in welcher durch die Wirkung der Ebbe und Fluth die Rotationsgeschwindigkeit thatsächlich verlangsamt wird. Es hat sich in den letzten 2500 Jahren die Dauer des Sternentags um mindestens 1/81 Secunde vermehrt, und so würden unsere Chronometer im Laufe eines Jahrhunderts um 22 Secunden der Weltuhr vorauseilen.

So gehören denn Millionen von Jahren dazu, ehe durch jene Gegenkraft die Erde ihre Drehung verlieren wird, um dann nur noch ihre Bahn um die Sonne zu wandern. Wie uns jetzt schon der Mond dieselbe Hälfte zukehrt, wird dann die Erde dasselbe der Sonne gegenüber thun. Die eine Erdhälfte hat dann fortwährend Tag, die andere bleibt in ewige Nacht gehüllt. Das Menschengeschlecht ist dann, wenn seine Existenz auch noch denkbar wäre, wohl längst schlafen gegangen, und andere Lebensformen sind an seine Stelle getreten.

Aber unerbittliche physikalische Gesetze weisen ferner darauf

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 363. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_363.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)