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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Obersten von B. bei seiner Rücklehr abstattete, ist mir noch Folgendes erinnerlich.

In vorschriftsmäßiger Uniform hatte er den Weg durch den Wald nach dem Lustschlosse genommen. Man reitet von Hofgeismar nach Wilhelmshöhe etwa drei Stunden; der Weg geht fast ununterbrochen durch den Wald.

Die Morgenfrühe athmete Ruhe und Frieden; in der Natur war nichts von dem Rumor zu spüren, der draußen in der Welt sich zusammenzog. Das meldete aber Lieutenant von G. nicht; es ist Zuthat des Erzählers. Gegen sechseinhalb Uhr traf der Officier auf Wilhelmshöhe ein und stieg bei Meister Schombart ab, um sich etwas in Stand zu setzen, ehe er drüben im Schlosse vor seinem Landesfürsten erschien. Aber hier erfuhr er, daß dieser schon um sechs Uhr nach Kassel gefahren war. „Ihm nach!“ war der Gedanke des Commandirten. Er hatte einen kleinen Imbiß genommen und war eben im Begriffe, sich wieder auf das Pferd zu schwingen, als ein Lakai drüben vom Schlosse erschien und ihn hinüber zur Gemahlin des Kurfürsten, zur Fürstin von Hanau, beschied. In Morgentoilette, wie sie war, kam sie dem Eintretenden entgegen, ihm bemerkend, daß man ihn durch den Wald habe kommen sehen und ihr dies sogleich gemeldet.

„Hängt Ihr Erscheinen mit irgend einem Ereigniß zusammen? Was ist geschehen? O, wir werden einem großen Unglück entgegengehen, und um so trauriger ist es, als man die Frage, ob es denn sein mußte, nur verneinen kann.“

Lieutenant von G. suchte die aufgeregte Dame zu beruhigen, indem er ihr versicherte, daß noch nichts geschehen sei, daß man aber nach der augenblicklichen Situation jeden Augenblick auf Alles gefaßt sein müsse. Schließlich theilte er ihr mit, in welcher Sendung er zum Kurfürsten käme.

„Der Kurfürst ist nach Kassel, um mit den Ministern zu berathen, überhaupt um am Platze zu sein. Sie werden gut thun, ihm sogleich dahin zu folgen.“

Auf dem Wege zur Residenz überlegte der Officier, daß im gegebenen Moment sein Erscheinen in Kassel eine ungerechtfertigte Beunruhigung hervorrufen oder zum Mindesten großes Aufsehen erregen würde. Er hielt es demnach für gerathener, auf Umwegen durch abgelegene Straßen in das Palais am Friedrichsplatze zu gelangen, wo der Kurfürst damals residirte. An dem Seiteneingange desselben saß er ab, und nachdem er sein Pferd der Sorge eines Lakaien übergeben hatte, stieg er das erste Geschoß zu den Gemächern des Kurfürsten hinan. Dieser mußte aber schon vorher sein Kommen bemerkt haben, denn als Lieutenant von G. die Hälfte der Stufen erstiegen hatte, bemerkte er oben die über das Geländer gebeugte Figur des Kurfürsten. Ohne ein Wort zu sagen, faßte dieser den jungen Officier, als er das Ende der Treppe erreicht hatte, vorn an der Uniform und zog ihn in seine Gemächer.

„Sind sie da?“ (nämlich die Preußen). Diese fast stoßartig hervorgebrachte Frage war von dem entsprechenden Mienenspiel begleitet.

„Nein, königliche Hoheit,“ war die Antwort des Officiers, „da sind sie noch nicht, aber sie können jeden Augenblick kommen und deshalb sendet mich der Obrist von B., um sich für den eintretenden Fall von Ew. königlichen Hoheit allerunterthänigst Verhaltungsmaßregeln zu erbitten.“

„Wie soll ich Instructionen ertheilen, wo ich selbst keine habe?“ jammerte der Kurfürst. „Ich bin ohne jede Nachricht über das, was nun geschehen soll. In Frankfurt scheint eine arge Verwirrung zu herrschen.“

„Aber was soll Obrist von B. thun, wenn die Preußen die Grenzen des Kurfürstenthums überschreiten?“ drängte fragend der Officier, auf den Zweck seiner Sendung zurückkommend.

Der Kurfürst ging rasch einige Mal im Zimmer auf und ab und schien zu überlegen.

„Wenn sie kommen,“ wandte sich der Monarch zu dem Husarenofficier, „dann – dann soll Obrist von B. ihnen entgegenreiten und Protest einlegen.“

„Protest?“ fragte überrascht der junge Officier.

„Nun ja, verstehen Sie das nicht?“

„Zu Befehl, Ew. königliche Hoheit, aber wenn ich, erlaube ich mir allerunterthänigst zu bemerken, an der Spitze einer Truppe als Feind die Grenzen eines Landes zu überschreiten hätte und es käme mir Einer mit einem Protest entgegen, dann würde ich ihn einfach gefangen nehmen lassen; das wäre der Protest gegen den Protest.“

Da wurde der Kurfürst fast heftig, und seine Stimme bekam einen Ausdruck, den man in der militärischen Sprache mit „Anpusten“ bezeichnet.

„Das verstehen Sie nicht,“ war seine Rede. „Das sind Fragen des Völkerrechts, und was von Preußen geschehen, ist gegen jedes Völkerrecht. Preußen ist die revolutionäre Macht. Aber was hilft alles das Reden? Vorläufig sind sie noch nicht da, können auch noch nicht da sein. Nicht einen einzigen Mann haben sie an meiner Grenze stehen.“

Das wußte er ganz genau.

Der Officier kam wieder auf den Zweck seiner Sendung zurück.

„Bleiben Sie hier, warten Sie! Ich würde Ihnen sagen, gehen Sie hinunter und lassen Sie sich Frühstück geben, wenn ich selbst etwas hätte. Es ist ja Alles in Wilhelmshöh'. Aber gehen Sie in den ‚König von Preußen‘!“

Das war damals der erste Gasthof Kassels.

„Wird aber dort, erlaube ich mir Ew. königlichen Hoheit allerunterthänigst zu bemerken, meine Anwesenheit nicht Aufsehen erregen, und müßte man nicht Alles vermeiden, was die Angst und Unruhe der Bevölkerung vermehren könnte?“

„Ja, ja, Sie haben Recht – das ist zu bedenken,“ bemerkte der Kurfürst nach einer Weile. „Es ist das Beste, Sie reiten nach Hofgeismar zurück. Ich sende die Befehle dorthin. Es müssen jede Stunde Nachrichten aus Frankfurt anlangen. Ich muß doch mein Verhalten mit dem meiner Verbündeten in Einklang bringen.“

„Das ist also der Bescheid, den ich unserm Commandeur überbringen soll?“

„Vorläufig, vorläufig,“ versetzte der Kurfürst.

„Und die Befehle Eurer Königlichen Hoheit werden sicher folgen?“

„Ja, ja! Reiten Sie nur!“ – –

Dem Regimente gingen keine Befehle zu, dagegen patrouillirten wir sehr eifrig an der Grenze, jeden Augenblick des Zusammenstoßes mit preußischen Truppen gewärtig.

Eines Tages waren wieder sehr starke Patrouillen vorgegangen, um die nach Westphalen und in das Fürstenthum Waldeck führenden Straßen zu beobachten. (Der Fürst von Waldeck hielt sich bekanntlich zur preußischen Truppe.) Da bemerkte denn der die Mannschaft führende Officier plötzlich einen hochbepackten, mit sehr schönen Pferden angeschirrten Reisewagen, der von Kassel kam und die Richtung nach der preußischen Grenze nahm. Der Officier ritt an den Schlag, um sich über die Persönlichkeit der Insassen zu informiren. Es waren deren zwei: der Fürst von Waldeck, der nach Kassel gekommen war, um sich von den Verhältnissen durch den Augenschein zu überzeugen, und, wie man sagt, beim Kurfürsten einen letzten Versuch zu machen, ihn vom österreichischen Interesse loszulösen; der zweite war der preußische Gesandte Herr von Röder. Der Officier kannte die beiden Herren persönlich, hatte bei Herrn von Röder oft getanzt und erklärte ihnen, daß er sich durch die officielle Eigenschaft ihrer Persönlichkeiten in die Lage versetzt sehe, sie zu Gefangenen zu machen. Darob große Entrüstung der Beiden, langes Parlamentiren von Seiten des Gesandten, der in diesem Acte eine flagrante Verletzung internationaler Gewährleistungen sah, von Seiten des Fürsten von Waldeck energischer Protest, Berufung auf sein persönliches Verhältniß zum Kurfürsten, und zum Schluß recht drastische Ergießungen über „das verfl… Land“. Unterdeß war eine Meldung an den Commandeur des Regiments zurückgegangen und von diesem, was zur Begegnung aller diplomatischen Weiterungen auch das Klügste war, der Befehl ergangen, die Herren ihres Weges ziehen zu lassen.

Nach einigen Tagen erhielt unser Regiment Befehl zu den Bundestruppen zu stoßen. Ich glaube nicht, daß der Kurfürst und seine höchsten militärische Rathgeber großes Vertrauen zu dem Erfolg der Operationen des Bundesheeres hatten. Man kannte in Kurhessen die Straffheiten der preußischen militärischen Organisation zu genau, um nicht die Zerfahrenheit, die Rathlosigkeit und Unentschlossenheit im jenseitigen Lager zu erkennen. Von diesem Gesichtspunkte aus gewinnt die Verfügung des damaligen kurhessischen Kriegsministers, Generals von Loßberg, an voraussehender Bedeutung, daß die kurhessische Armee vorläufig nach

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 365. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_365.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)