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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Der wilde Tumult in der Fabrik hatte inzwischen nach Bandmüller’s Entfernung noch eine Weile fortgedauert. Während im Hintergrunde der lange Abraham Angreifer um Angreifer von sich schleuderte, wie der Wildeber die Meute, unterstützt, soweit man sehen konnte, von zwei oder drei Genossen, hatte man den Commerzienrath seitwärts auf das Podium des Katheders niedergedrückt. Seine Hände waren wie zwischen Schraubstöcke gepreßt und sein angstverzerrtes Gesicht blickte in die finstern Züge jenes Hotelmann, den er einst seiner Neigung zum Fluchen halber aus der Arbeit entlassen hatte. Der Mann hielt ein gespanntes Pistol in der Hand, und die zornigen Ausbrüche seiner wilden Rachsucht hatten so viel Drohendes wie die Mündung der Waffe, welche beständig über den Augen des Fabrikanten schwankte. Plötzlich ertönte im Hintergrunde ein Schrei – die Folge eines wohlgezielten Hiebes, den Abraham Fenner verabreicht hatte; Hotelmann richtete sich auf – ein Schuß entlud sich –

Einen Moment machte der Lärm eine Pause; um das Katheder träufelte sich bläulicher Dampf – dann wurde die Thür aufgerissen, und fluchtartig schnell drängten sich die zu vorderst Stehenden hinaus; Andere folgten; der Commerzienrath fühlte seine Hände frei – das drohende Antlitz Hotelmann's war verschwunden – –

Was war geschehen? Im Grunde nichts. Der Schuß, welcher Abraham Fenner gegolten, hatte gefehlt; die Kugel war unschädlich in die Wand gefahren – man sah es an dem Kalk, den sie heruntergeschlagen hatte. Das Gewaltsame, Unerwartete des Schusses schien eine Panik erzeugt zu haben, deren ansteckende Wirkung in weniger Zeit als einer Minute den Raum leerte. Nur der Commerzienrath und seine Vertheidiger blieben zurück. Die Rotte stürmte zu dem von Bandmüller verschlossenen Ausgange hinunter; man rüttelte ein paar mal vergeblich und versuchte dann auf der andern Seite das Entkommen zu bewerkstelligen, und es gelang hier, da der Kutscher, welcher den Auftrag auszurichten gegangen war, das Gitterpförtchen offen gelassen hatte. Als man sich auf der Straße besann, hatte Niemand recht den Muth, zurückzukehren. Kein Einziger wußte mit Bestimmtheit zu sagen, welche Wirkung der Schuß gehabt. –

Die Barricade bei der Schmiede war bereits vor Sonnenaufgang fertig gestellt worden und überragte an Höhe den seitlichen Rest des Berges. Dieser war durch Abtragen von Erde abgeschrägt und ersteigbar gemacht worden. Den Bau und die Bergwand auf und nieder kletterten Menschen – ein Ameisengewimmel, wilde, trotzige, oder launig-lustige Gesichter, erhitzt und großentheils auch geschwärzt von der Arbeit und dem Rauche des Feuers, welches auf der Böschung zum Flusse hinunter noch immer brannte und bei dessen Gluth kauernde Gestalten Kugeln gossen. Gewehrläufe blinkten allenthalben, dazwischen auch manche scharfe Waffe, und in die blauen Blousen mischte sich hier und da eine phantastische Tracht. Die Chaussee war auf der zur Stadt führenden Strecke, so weit man sehen konnte, belebt.

Auf der Höhe der Barricade, dort wo sie an die Bergwand stieß, auf der an dieser Stelle noch ein Rest der Teufelszwirnwucherung stehen geblieben war, befand sich Karl Hornemann nebst ein paar Freunden in eifrigem Gespräch. Er war völlig unbewaffnet; seine Hand hielt nichts als ein Fernglas, welches er zuweilen an das Auge führte.

Das Wetter hatte sich geklärt. Ein Sonnenblick flog über die Scene hin, als einer der Männer neben Karl Hornemann einen Ruf der Ueberraschung ausstieß und auf die Chaussee hinausdeutete. In rasendem Galopp kam ein Reiter gesprengt, mit der einen Hand den Hut schwenkend. Der Pascha hob das Glas und erkannte den Friesen.

„Bei Gott, unser Freund Harro!“ sagte er. „Das Pferd schäumt, und mir ahnt, was dieser tolle Ritt bedeutet.“

Der Friese näherte sich rasch; man hörte das Schnaufen des Thieres und den lauten Ruf des Reiters: „Hurrah, sie kommen. Guten Morgen, Kinder!“ Der Kamm der Barricade bedeckte sich mit Neugierigen.

Lebhaftes Winken und Zurufen veranlaßte den Ankömmling, in das Terrain einzulenken, auf welchem einst die Zigeuner gelagert hatten; er sprang hier vom Pferde, ohne sich weiter um dasselbe zu kümmern, und stieg eine Leiter herauf, welche man über den Bergrest hinunterließ. „Die X-er kommen, Cavallerie und Artillerie,“ sagte er drüben, den Freunden die Hände schüttelnd, welche niedergestiegen waren. „Kinder, wie nett Ihr Euch eingerichtet habt!“ Er strich sich das blonde Gelock aus der feuchten Stirn und rang schwer nach Athem, während er mit Wohlgefallen den Bau musterte.

Der Pascha war rasch von ihm weg getreten. „Die Dreißig hier bleiben und mit den Reserven hinter die Bergecke!“ rief er in die umdrängende Menge. „Fort mit euch Andern an die Kaiserbrücke! Reißt hüben und drüben das Pflaster auf und baut so hoch wie Ihr könnt! Für Wagen wird die Requisitions-Compagnie gesorgt haben; im Nothfalle müssen Möbel aushelfen. Nur vorwärts! Baumeister, Du gehst wohl und übernimmst die Leitung?“

Der Abzug begann; einige Minuten später war die Chaussee bis zu der Stelle, wo der Berg ihren Fortgang verdeckte, entblößt. Während die Zurückgebliebenen sich ihren Standpunkt wählten, erzählte der Friese von dem Fremden, der in verflossener Nacht im Wirthshause der Erlenfuhrt Quartier genommen und den man nach Harro's Beschreibung leicht identificirte, von den beiden Husaren, welche, zum Recognosciren vorausgesandt, ebenda abgestiegen waren, und weiter, wie er Zeuge des Gesprächs zwischen den Fremden und den Soldaten gewesen war und daraus die Lage der Dinge erfahren hatte. Mit raschem Entschlusse war er hinausgeeilt und hatte eines der Husarenpferde bestiegen, welche der Knecht am Zügel gehalten. „Ihr könnt euch denken, daß ich den Gaul nicht geschont habe,“ schloß er.

So verging eine Viertelstunde. Da kam der Trupp an, welcher Bandmüller in die Mitte genommen hatte; die Leute baten um die Erlaubniß, bleiben zu dürfen, und sie wurde ihnen im Hinblick auf ihre Bewaffnung gewährt. Harro begrüßte den ehemaligen Fabrikleiter ironisch und erinnerte sofort an die Zigeuner, welche er noch den Abend zuvor bei der Erlenfuhrt gesprochen habe. Bandmüller beeilte sich mit verdrießlichem Gesicht, diesem Gesprächsstoff zu entgehen; er nahm ein Gewehr, welches man ihm reichte, und begab sich auf die Höhe des Bergrestes.

Auf der Barricade rief man „Hurrah!“ In der Entfernung bewegte sich eine dunkle Masse näher, und der Pascha, das abgesetzte Glas seinem Nachbar reichend, sagte: „Husaren und Ulanen.“ Die Besatzung des Bergrestes stieg auf den Kamm und reckte neugierig die Hälse; Niemand beachtete, wie Bandmüller die jenseitige Tiefe mit den Augen abschätzte und das Pferd musterte, welches dort ruhig an dem dürren Grase rupfte. „Treten Sie nicht so weit dort hinüber!“ rief plötzlich sein Nachbar. Zu spät; die Erde rutschte unter den Füßen des Fabrikleiters, und er fiel jenseits auf den Boden. „Hülfe!“ rief er, „die Soldaten – man wird mich fangen.“ – „Die Leiter her!“ schrieen ein paar Stimmen. Bandmüller raffte sich auf und stürzte zu dem Pferde hin; ein Sprung, und er saß im Sattel und jagte auf das Gebüsch hinter der Schmiede zu. Harro stieß einen zornigen Ruf aus und riß einem der Schützen das Gewehr aus der Hand, aber Karl Hornemann fiel ihm in den Arm. „Das ist ein Spitzbubenstreich,“ schrie der Friese entrüstet; „eine Kugel für den Deserteur und Pferdedieb! Erinnerst Du Dich jenes Hendricks, von dem ich Euch im Wiedenhofe erzählt habe? Das ist der nämliche Kerl, der mich schon einmal um ein Pferd gebracht hat – ich möchte jede Wette darauf eingehen.“ Der Pascha sah in verwundert an. „Hendricks, sagst Du? Wie wäre das möglich? Aber gleichviel – und wenn er es wäre: wir haben jetzt keine Kugeln für einen solchen Schurken übrig.“

„Fertig zum Feuern! Sie kommen.“

Aber sie kamen nicht, sondern hielten außer Schußweite und saßen ab. Die Officiere beobachteten das unerwartete Hinderniß mit dem Fernglas; dann schwang sich einer der Husaren wieder auf sein Pferd und ritt im Galopp den Weg zurück, den sie gekommen waren. Ein zweiter ging seitlich an den Busch und schnitt einen Stock ab; man band ein weißes Taschentuch an denselben, und der Husar sowie ein Officier bestiegen ihre Pferde, worauf Beide langsam zur Barricade heranritten, der Soldat die Parlamentärflagge haltend.

„Im Namen des Königs – ich fordere die Besatzung dieses Schanzwerks, sich ruhig in die Stadt zu begeben. Wer binnen einer Viertelstunde noch bei demselben anwesend gefunden wird, hat eine Behandlung als Empörer, im Falle thätlichen Widerstandes nach Kriegsrecht, zu gewärtigen.“

Der ungeduldige Friese sprang auf den Kamm und hob den Arm empor. Der Wind wühlte in seinen wehenden Locken. „Im

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_391.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)