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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


blickte ihn verwundert an, als er unten wieder die Hausthür öffnete und ohne ein Wort zu sagen auf die Straße ging.

Er hatte sein Zimmer auf dem Rathhause verlassen, weil sich an diesem Morgen keine Seele um ihn gekümmert hatte; er war im Rathhause Menschen suchen gegangen und hatte keine gefunden. Draußen waren verwundete Flüchtlinge vorbei geeilt, und mit der aufdämmernden Ahnung dessen, was sich zugetragen, hatte sich seiner die Sorge um Weib und Haus bemächtigt, und er war unangefochten durch die Schreckensspuren der Revolution heimwärts geschritten. Die beruhigenden Versicherungen des Mädchens, das ihm geöffnet, hatten dem Erfreuten den Einfall eingegeben, heimlich, ganz heimlich zu seinem Weibe zu schleichen und dann plötzlich zu sagen: „Da bin ich.“

Ein flüchtiger Blick durch die Portière oben – und er war wieder umgekehrt.

„Ich darbe und hungere nach ihrer Liebe,“ sprach er mit bebendem Munde vor sich hin. „Ich habe ein Weib und habe doch keines. Und zur Zeit, da sie mich verreist glauben muß, finde ich meinen bittersten Verfolger und Nebenbuhler auf den Knieen vor ihr. Aber ich darf ihr nicht mißtrauen; sie müßte der Auswurf ihres Geschlechts sein, um eine solche Schuld zu tragen – weg mit dem Gedanken! Ich hätte dem Mädchen gebieten sollen, ihr nichts von meinem Besuch zu sagen; sie wird sich beunruhigen – –“

Er stieg zerstreut über das Geröll am Fuße der Barricade auf die Kaiserbrücke, auf welcher das Militär bereits mit dem Abtragen beschäftigt war. Die Körper der Gefallenen mußten weggeräumt sein, nur die Blutspuren verriethen noch, wo sie gelegen. In der Nähe des Hornemann’schen Hauses überfiel ihn erschreckend der Gedanke an das Schicksal seines Schwagers. Er konnte nur vermuthen, daß derselbe in die Empörung mit verwickelt gewesen war; von der Bedeutung, welche dessen politische Thätigkeit innerhalb der demokratischen Partei hatte, wußte er nichts Genügendes, um vollaus zu begreifen, in wie weitem Umfange er zu Besorgnissen Grund hatte. Er beeilte sich, um in den alten Bau zu gelangen.

Ein Mann kam ihm entgegen, und als er das Auge auf ihn richtete, erkannte er den Polizeicommissar Donner. Der Beamte blieb vor ihm stehen und deutete mit fragendem Gesicht in die Gegend, in welcher das Rathhaus lag.

„Ich bin frei, sobald ich will,“ meinte Zehren, „weil meine Gefangenschaft eine freiwillige war.“

Donner zuckte die Achseln. „Ich kann Sie nicht freilassen ohne ausdrückliche Zustimmung des Herrn Geheimrathes.“

„So lassen Sie mich wenigstens erst in jenem Hause einen Besuch machen,“ entgegnete Zehren, unmuthig vor sich hinweisend. Aber Donner erwiderte etwas, woraus er zum mindesten die Aufforderung verstand, ihn sofort zu begleiten, und er fügte sich.

Sie stiegen über die Barricade und betraten eines der anstoßenden Häuser. Auf der Treppe begegnete ihnen ein Polizeidiener, mit dem Donner ein paar Worte wechselte, und oben standen vor einer Thür zwei Husaren mit blankem Säbel Wache. Hier traten sie ein.

Ein kleiner, freundlicher Raum – wohl ein Fremdenzimmer der Hausbewohner; die Rouleaux vor den Fenstern herabgelassen. Vor einem weiß überzogenen Bette kniete, die Stirn auf den Bettrand gelegt, die alte Frau Hornemann, regungslos, und auf dem Bett lag der Pascha, – ein Todter. Sein Kopf war mit Binden umwickelt; seine Augen waren geschlossen.

„Allmächtiger Gott,“ stammelte Zehren, „mein armer Schwager!“

Donner näherte sich der alten Frau und zog eine Hand voll Papiere aus der Tasche. „Frau Hornemann, hier sind die Briefe,“ sagte er mit gedämpfter Stimme, indem er leise ihre Schulter berührte. Sie bewegte sich nicht. Erst als der Beamte die Worte wiederholte und die knisternden Briefe neben ihr Ohr auf das Bett legte, richtete sie sich langsam auf und wandte das geisterhaft graue, thränennasse Gesicht herum.

Sie erkannte Zehren und schwankte, unbekümmert um den lange bewahrten Fund Donner’s, der die Kette sprengen sollte, an der sie das Unglück ihrer Vergangenheit mit sich herumgeschleppt, auf den Schwiegersohn zu. „Mein Sohn!“ rief sie in herzzerreißendem Jammer, „mein einziger Sohn!“ Ihr Kopf sank schwer an die Brust des Fabrikanten; sie war ohnmächtig geworden. -–

Eine Viertelstunde später schritten Donner und Zehren dem Rathhause zu, trübe und schweigend. Ein paar Ulanen kreuzten ihren Weg, zwei Zigeuner geleitend, denen die Hände auf dem Rücken zusammengebunden waren. Die Zigeuner waren Michal und sein Vater, und als Donner eine Frage hinüber rief, machte einer der Soldaten mit lachendem Gesicht die Geste des Stehlens.

Der Geheimrath Rehling war im Rathhause nicht anwesend; Franz Zehren mußte sich bequemen, im nämlichen Zimmer, in welchem er die Nacht verbracht, die Ankunft desselben abzuwarten. –

Die Todten wurden der Erde übergeben, und obschon am Tage, da dies geschah, die Nachricht vom Märzsturm der Berliner eintraf, gestattete man, daß Tausende mit Musik und Fahnen den Särgen folgten; man glaubte sich auf Seiten der Behörde wie des Militärcommandos gesichert, nachdem man aus den Reihen der Unionspartei eine Bürgerwehr organisirt hatte. Niemand verwehrte den Angehörigen, die Gräber zu bekränzen und auf denselben zu weinen. Mit Verhaftungen ging man sparsam vor; man unterschied zwischen „Verführern“ und „Verführten“.

Die Spuren der Barricaden beeilte man sich so vollständig wie möglich zu verwischen.

Die Rotte, welche den Ueberfall in der Fabrik des Commerzienrathes verübt und später auch auf anderen Stellen ihre socialistische Ausgleichungstheorie in die Praxis umzusetzen versucht hatte, war theils schon gelegentlich dieser Versuche eingefangen worden, theils hatten ihre Mitglieder die Flucht ergriffen, und die Signalements derselben flogen durch das Rheinland und über die Grenzen. Eines Tages fand ein Bauer, der den Weg durch das Gebüsch hinter der Schmiede nahm, welche in Verbindung mit dem ersten Barricadensturm jetzt so viel genannt wurde, unter der Hänge-Eiche den Leichnam des Fabrikleiters Bandmüller; tief im Rücken stak ihm ein Dolch, welchen Niemand kennen wollte, – der Dolch der Zigeunerin. Das Grauen über ihre That mochte ihr nicht verstattet haben, das mit ein paar edlen Steinen besetzte Instrument wieder an sich zu nehmen. Der Raub fand sich unberührt in den Taschen des Ermordeten vor.

Nach Urban suchte man vergeblich. Die arme kleine Toni zerfloß in Thränen, und der Commerzienrath hatte nicht einmal die Genugthuung, über den Empörer schelten zu dürfen, wenn er ihre leidenschaftliche Aufregung nicht zu bedrohlichen Zufällen steigern wollte. Dann wurde sie mit einem Male ruhiger. Ihr Vater beobachtete sie scharf.

„Würdest Du im Stande sein, Deinen Vater zu verlassen, um einem unwürdigen Gatten in das Ausland zu folgen?“ fragte er sie gelegentlich, wie zufällig.

„Vater und Mutter zu verlassen um seinetwillen, wie es in der Schrift steht, Papa.“

Er beschloß, von nun an mit aller Aufmerksamkeit über sie zu wachen, und am nächsten Morgen war sie gleichwohl schon verschwunden. Ein Billet enthielt die zärtlichsten Abschiedsworte und Spuren von Thränen, aber keinen Fingerzeig über ihren Verbleib.

Zehren war von dem Geheimrath unverzüglich nach dessen Ankunft entlassen worden; er kehrte zu Milli zurück, und die tiefe Trauer um den Gefallenen drängte in den ersten Tagen jedes andere Interesse in den Hintergrund. Nach dem Begräbniß aber beruhigten sich die Gemüther ein wenig. Am raschesten faßte sich die alte Frau, welche dem bittenden Schwiegersohn aus der qualvollen Einsamkeit ihres Hauses in das seine folgte, um weiterhin dauernd hier ihren Wohnsitz aufzuschlagen. Sie fand Trost in der Rücksichtslosigkeit, mit der sich ihr plötzlich das Herz der Tochter erschloß, und – noch in etwas Anderem, was sie ängstlich als ihr Geheimniß aufwahrte. Ein Geheimniß hatte freilich auch Milli; sie brütete darüber, und sie machte Ausgänge, über welche sie Niemandem Rede stand und welche sie, wenn es ging, verbarg. Bei Zehren aber wirkte jetzt die Erinnerung an jenen flüchtigen Besuch seines Hauses eine Beklommenheit, welche sein Auge mit verstohlenen Fragen füllte. Der Name Urban’s kam weder über seine, noch über Milli’s Lippen, aber sie fragte ihn auch nicht einmal über seine angebliche Reise. Manchmal überraschte er ihre Blicke, wie sie warm und innig auf ihm ruhten, daß eine Ahnung unaussprechlichen Glückes den ernsten, resignirt stillen Mann durchschauerte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 409. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_409.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)