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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„Und warum nit?“ brüllte Wilderich außer sich. „Was könnt Ihr ihr Unrechtes nachsagen, daß Ihr ihr Schand’ und Spott anthut vor allen Leuten?“

Er riß sich von dem in halber Ohnmacht zusammenbrechenden Mädchen los und stürzte auf den Vater zu, aber ehe er denselben erreichte, hatte Engerl sich aufgerafft und stand mit ausgebreiteten Armen abwehrend zwischen Vater und Sohn.

„Zurück, Wildfang!“ rief sie dem Burschen zu. „Willst Dich an Deinem leiblichen Vater vergreifen? Zurück, sag’ ich; ich brauch’ Dich und Deine Vertheidigung nit. Ich will mich wohl selber vertheidigen, und wenn der Himmelmooser auch ein reicher Bauer ist und ich ein armes Dirn bin – er hat mich vor aller Welt an meiner Ehr’ angegriffen, und die soll er mir wieder geben. Dafür will ich sorgen, so wahr als unser Herr Jesus am Kreuze gestorben ist.“

Sie wollte sinken – einige der Umstehenden fingen sie auf, während andere den Bauer umringten, wieder andere den fast sinnlosen Burschen zu bewältigen suchten. Der Zwiespalt zwischen Sohn und Vater war unheilbar öffentlich geworden und manch’ Einer schüttelte bedenklich und traurig den Kopf und murmelte, das könne unmöglich ein gutes Ende nehmen – das gebe gewiß noch ein Unglück ab.




3.


Unter der Hausthür des Himmelmooserhofes stand Judika und schlug die Hände zusammen. „Jetzt kann es schön werden,“ brummte sie vor sich hin, „jetzt hat das Wetter das rechte Loch gefunden. – Wenn es drei Tage so fort macht, schneit es auf den Bergen an, und der Winter ist da, eh’ man eine Hand umdreht, und es hat keinen Anschein, daß es so bald aufhört.“ Behutsam trat sie einige Schritte, der Gräd entlang, in’s Freie, um nach Westen, dem sogenannten Wetterwinkel, zu blicken, aus welchem der Bauer die meisten seiner Anzeichen und Prophezeiungen holt. Der Anblick bot nichts Tröstliches. Wie ein ausgespanntes graues Tuch lag es nebelhaft auf der ganzen Gegend, und ein geräuschloser feiner Regen fiel so dicht, daß über die Hänge hinab und in den Wegrinnen schon kleine Bächlein nieder rieselten, daß das Drachenmaul an der Dachrinne zu speien anhub und Tropfen von den Bäumen fielen, mit manchem welken Blatte vermengt, das der Last nicht mehr gewachsen war.

Der ganze Hof und seine Umgebung war leer und still; es war Sonntag. Die Knechte und Mägde hatten die unvermeidliche Morgenarbeit bereits gethan und sich auf den Kirchgang gemacht, um den Hauptgottesdienst mit Amt und Predigt nicht zu versäumen. Auch Judika hatte die gleiche fromme Absicht, aber sie mußte mit der Erfüllung warten und durfte sich nicht eher entfernen, als bis der Bauer heim kam, der in die Frühmesse gegangen war, um dann, wie es in abgelegenen oder einzelnen Gehöften üblich, während des Hauptgottesdienstes die Kirchenwache zu halten. Schon war durch den Nebel das erste Zusammenläuten wie gedämpft von der Dorfkirche heraufgeklungen, und die Wartende, von der Ungeduld vor das Haus gedrängt, befand sich bereits in vollem Sonntagsanzuge; sie hatte das Gebetbuch unterm Arme und den silbergefaßten Rosenkranz um die Hand geschlungen, aber noch immer wollte der Erwartete sich nicht zeigen, und Judika blieb nichts übrig, als zur Abkürzung der Zeit in ihren Wetterbeobachtungen fortzufahren und daraus Nutzanwendungen auf die Gegenstände zu ziehen, die ihr mitleidiges Herz eben am nächsten berührten und zumeist bewegten.

Die Vorfälle des vergangenen Abends waren ihr kein Geheimniß geblieben – noch vor der Ankunft des Bauers hatten heimkehrende Festgäste von der Rundcapelle das dort Geschehene berichtet. Ihre Besorgniß war auf’s Höchste gestiegen, und wenn sie auch Wildel zu gut zu kennen glaubte, als daß er nach dem Vorgefallenen das väterliche Haus aufsuchen werde, konnte sie doch die ganze Nacht kein Auge zuthun; sie sah durch das dunkle Fenster ihrer Kammer, wie der Nachthimmel sich mehr und mehr verfinsterte; sie hörte, wie einige heulende Windstöße den Nebel und das Regengewölk heran jagten, und sie gedachte der Freuden und Hoffnungen, denen sie sich bezüglich der Heimkehr ihres Lieblings hingegeben hatte und die nun in Leid und Trostlosigkeit umgeschlagen waren, plötzlich, wie der milde warme Spätsommerabend umschlug in einen kalten stürmischen Herbstmorgen. Es ging auf Mitternacht, als sie den Herrn des Hauses heimkommen hörte, nicht wild und unbändig, wie sie gefürchtet, sondern ohne einen andern Laut, als die wenigen Worte, die mit dem herbeigepfiffenen Knechte wegen Versorgung von Wagen und Pferden gewechselt werden mußten. Lange hatte sie gelauscht, ob er sie nicht noch rufen, ihr erzählen und einen jener Zornausbrüche beginnen werde, deren sie so oft Zeuge gewesen. Als Alles ruhig blieb, dachte sie an den Sohn des Hauses, den Verstoßenen, der in dieser Sturmnacht vielleicht nicht wisse, wohin er sein Haupt legen könne; das Herz wollte ihr brechen vor Jammer, und ihr Schluchzen zu verbergen, begrub sie das Angesicht in den thränenfeuchten Kissen. Aber etwas Gutes hatte die Sturmnacht – sie brachte einen Entschluß.

Es war Judika klar geworden, daß die Dinge so weit gekommen waren, daß sie nicht mehr ihrem eigenen Laufe überlassen bleiben konnten: von fremder Hand mußte eingegriffen und ihnen eine Richtung gegeben werden, und diese Hand mußte eine ebenso wohlwollende wie entschiedene sein, und Beides, meinte sie, sei in ihrer Hand vereinigt. Unmittelbar nach dem Hochamte wollte sie den Alten in’s Gebet nehmen, sich Klarheit über sein räthselhaftes Vorhaben verschaffen und nach einem Faden suchen, welcher eine Vermittelung mit dem Sohne hoffen ließ. Hatte sie nur erst einen solchen gefunden, dann glaubte sie schon halb gewonnenes Spiel zu haben, wußte sie doch, welche Macht ihr Zureden über den Sohn schon oft geübt; ihn wollte sie dann aufsuchen und nicht müde werden im Hin- und Widergehen, bis aus der Zwischenträgerin eine Friedensstifterin geworden.

Eben wollte sie wieder in’s Haus zurück gehen, als sie den Hall von herannahenden Schritten zu erkennen glaubte – die Hand schirmartig über die Augen haltend, spähte sie dahin. „Er ist es doch nicht,“ murmelte sie, „wenn mich der Nebel nicht irrt, ist es gar ein Weiberleut, das da kommt. Sie geht wirklich auf den Hof zu – was mag die wollen? Mir scheint, sie hat’s eilig.“

Sie hatte sich nicht getäuscht; in wenigen Augenblicken stand die Erwartete vor ihr: es war Engerl.

Das Mädchen war Judika gar nicht oder höchstens von flüchtigem Sehen bekannt, wäre dies aber auch nicht der Fall gewesen, so hätte sie doch Mühe gehabt, dieselbe wieder zu erkennen. Eine mächtige Veränderung war seit den Ereignissen des vergangenen Abends in ihrem Innern vorgegangen und hatte nicht verfehlt, auch der äußern Erscheinung ihr Gepräge aufzudrücken. Wachend und unter strömenden Thränen hatte sie die Nacht verbracht und vergebens nach einem Auswege gerungen, der sie, wie aus einem Walddickicht, heraus zu führen vermöchte aus der Verwirrung, in die sie so plötzlich gerathen war. War doch auf einmal in ihrem bisher so stillen und verborgenen Leben eine Wendung eingetreten, die sie aus dunkler Verborgenheit in das grelle Licht der Oeffentlichkeit hinausschleuderte und all ihren Wünschen, Hoffnungen und Bestrebungen für immer ein Ende machte. Und doch war es noch weniger das Geschehene selbst, was sie außer sich brachte, als die Art und Weise, wie es geschehen war. Wohl stand die Möglichkeit eines friedlichen Liebes- und Lebensglückes, von der sie in geheimen, kaum sich selbst gestandenen Augenblicken geträumt hatte, neben ihr gleich einem vom Sturmwind in vollem Blüthenschmuck gebrochenen Baume –, dennoch war es ihr ein noch herberer Verlust, daß sie vor so vielen Zeugen, vor der ganzen Heimathsbevölkerung beschimpft und einer Betteldirne hinterm Zaune nachgestellt worden war. Was half ihr nun ihr so rein bewahrter fleckenloser Lebenslauf? Das Geheimniß ihrer Liebe war in schmählicher Weise an den Tag gekommen; der eigene Vater des Geliebten war’s, der sie schmähte. Mußten die Leute nicht glauben, daß ihr bisheriges Betragen nur Heuchelei und Betrug gewesen? Mußte sie nicht befürchten, daß mindestens ein Makel an ihrem Rufe hängen bliebe? Welche Mittel zu ihrer Vertheidigung standen ihr zu Gebot, einem reichen, angesehenen Ankläger gegenüber, ihr, einem armen Mädchen, einer geringen Dienstmagd, einer Waise, welche der einzige Freund, den sie besaß, gegen diesen Ankläger nicht vertheidigen durfte und konnte, weil ihn die Beschuldigung ebenso traf wie sie?

Das Taggeläute, das durch die tiefe Morgendämmerung erscholl, weckte sie aus ihrem Brüten und erinnerte sie, daß sie keinen Augenblick zu versäumen habe. Wenn etwas geschehen sollte, mußte es in der ersten Morgenfrühe gethan werden, ehe die Dorfbewohner sich in der Kirche wieder begegneten; wenn sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 414. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_414.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)