Seite:Die Gartenlaube (1877) 439.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Brod des Geistes. Er ließ seinen Erstlingswerken bald Weiteres folgen, und die nachkommenden standen ihren Vorläufern keineswegs nach; sie übertrafen sie sogar an Form und Gehalt.

„Olle Kamellen“, „Schurr-Murr“, „Ut mine Festungstid“, „Ut mine Stromtid“, „Dorchläuchting“ – sollen wir sie alle aufzählen, die jeder Literaturfreund kennt und als Schätze unseres vaterländischen Schriftwesens verehrt?

Aber wie kam es denn, daß sich dem Autor die Wege in das Volk so rasch ebneten, da er doch in einer Mundart schrieb, die einem großen Theil des Publicums verschlossen war und zu welcher es mit eigener Hand den Schlüssel schwerlich gefunden haben würde? Wie kam es, daß Fritz Reuter im Norden wie im Süden seine Anhänger gefunden? Das lebendige Wort, das auch sonst im menschlichen Verkehr den wirksamsten Vermittler bildet, das lebendige Wort wandernder Vorleser und Interpreten ist es, dem das Hauptverdienst der Popularisirung unseres trefflichen Humoristen gebührt. Fritz Reuter hat solcher Sendboten, die sich aus Liebe und Begeisterung zur Sache auf den Weg machten, mehrere und darunter sehr tüchtige gefunden. Das Ergebniß ihrer Thätigkeit ist in der That ein außerordentliches.

Männer, wie Kräpelin, dessen die „Gartenlaube“ in Nr. 11 dieses Jahrgangs gedachte, haben durch ihre Reuter-Vorlesungen Tausende zum Studium dieses echtdeutschen Humoristen angeregt und Unzähligen Stunden heiteren Genusses verschafft. Es ließen sich noch Mehrere nennen, wenn es gälte, alle verdienstvollen Reuter-Vorleser hier anzuführen, was indeß unsere Aufgabe nicht ist.

Katheder und Hörsaal bezeichnen bekanntlich nicht allein die Stätte, wo die Anhänger Reuter’s sich sammelten und zur immer größeren Gemeinde anwuchsen. Ein noch weit mächtigerer Factor gesellte sich hinzu, um dem Dichter Freunde zu werben: die Bühne. Wie hätte sie auch solch einen Schatz sich entgehen lassen können? Ist ja ihre Stoffarmuth so drückend, daß kein halb dem Ei entkrochener Roman, keine Novelle in einem Unterhaltungsblatte davor sicher ist, noch ehe sie in ursprünglicher Gestalt Leser gefunden haben, dramatisch eingeschlachtet und als Schau- und Trauerspiel auf die weltbedeutenden Bretter gesetzt zu werden – ein Unwesen, von dem auch die „Gartenlaube“ manches Histörchen zu erzählen wüßte.

So armselig und unersprießlich dieses Verfahren sonst genannt werden muß, in unserm Falle darf die Ueberführung Reuter’s auf die Bühne nur gutgeheißen werden. Man hat damit kein Lustspiel gewonnen, das vor den strengen Regeln der dramatischen Technik Stand zu halten vermöchte, aber ein Stück, das dem Zuschauer eine der köstlichsten Gestalten deutschen Humors lebendig vorführt und ihn über der zwerchfellerschütternden Wirkung dieser Prachtfigur gern die Schwächen der Composition vergessen läßt, vorausgesetzt, daß sich für den Helden ein Darsteller findet, der seiner schwierigen Aufgabe völlig gewachsen ist.

Jetzt sehen wir uns dem Künstler und seinem Vorbilde gegenüber, den unser Bild veranschaulicht: August Junkermann als Onkel Bräsig.

Der Genannte, aus Bielefeld gebürtig und zur Zeit Mitglied des Stuttgarter Hoftheaters, ist einer der erfolgreichsten Freiwerber der Reuter-Gemeinde, der dem Dichter nicht nur als Vorleser, sondern auch als Darsteller auf der Bühne die Wege in’s große Publicum erschloß und dem vor Allen das Verdienst zukommt, dem Süden Deutschlands das Verständniß des norddeutschen Humoristen erschlossen zu haben. Und zwar waltet dabei eine seltene Uneigennützigkeit ob, denn weitaus die meisten seiner Vorträge sind milden Zwecken, viele auch der Mehrung des Fonds zum Reuter-Denkmal gewidmet. Allüberall, wo er bisher auftrat – und es ist eine stattliche Reihe von Städten, die seine Wirksamkeit bezeichnet – wuchs die Schaar seiner Zuhörer mit jedem neuen Vortrage in einer Weise, die als das schlagendste Zeugniß seiner Tüchtigkeit betrachtet werden muß. Und wie auf dem Katheder, wenn er Reuter liest, so auf der Bühne, wenn er Reuter spielt.

Nur ein Bruchtheil vom Humor des Dichters ist es, der den Weg auf die Bretter genommen hat, aber es ist auch gewissermaßen die Perle seiner Komik, der Onkel Bräsig eben, und gerade in der Verkörperung dieser köstlichen Figur glänzt Junkermann als ein Meister seines Faches.

Man muß ihn gesehen haben, um zu empfinden, welch unwiderstehliche Gewalt seine Darstellungsgabe auf die Lachmuskeln ausübt. Ein Stück aus dem frischen Leben der Wirklichkeit geschnitten, so tritt sein Bräsig vor uns, und während wir uns an seinem komischen Gebahren ergötzen, während uns die Strahlen dieses lauteren Gemüths erwärmen, kann sich tief im Innern des Zuschauers nur das Bedauern regen, daß solche Vollblut-Biedermänner wie „Entspecter Bräsig“ in dieser Zeit des Dampfes und der Telegraphen, der Börsenmanöver und Kriegsmaschinen doch immer mehr auf den Aussterbe-Etat kommen.

Wer könnte denn kalt und gleichgültig dreinblicken, wenn „Onkel Bräsig“, dieser Apostel der Naturphilosophie im bäuerischen Flausrock, diese Mensch gewordene Mischung von Aufklärung und beschränktem Unterthanenverstand, von stiller Resignation und nimmermüder Lebensfreudigkeit, von männlicher Strenge und jugendlicher Schalkhaftigkeit, breitbeinig daher gewackelt kommt? Wenn man ihm z. B. zusieht, wie er sich voll Ironie vom Leutnant Rambow abwendet, als der ihn über den neumodischen Ackerbau belehren will, und er ihm in seinem urgemüthlichen Dialect erwidert: „Natürlich muß der Boden dazu erst gehörig präperirt werden, und wenn wir denn mit diese Preposition fertig sind, denn bauen wir nix mehr als Mandeln und Rosinen, un damit futtern wir die Sweine“ und dann, zur Frau von Rambow gekehrt, hinzufügt: „un denn sollen Sie mal sehn, Frau Leutnantin, wo süß so ein Swein smeckt, das mit Mandeln un Rosinen fett gemacht is,“ worauf Bräsig ein unnachahmliches Gelächter ausstößt. Oder in der Scene, wo er seinen lieben Korl mit der Jugenderinnerungen tröstet, während ihm selbst das Herz erbebt: „Weißt Du noch, Korl, in die Provat: In die Fixigkeit war ich Dich über, bloß in die Richtigkeit, da warst Du mich über.“ Dann bei dem reizenden Auftritt, als Axel sich erschießen will und Bräsig, hinter dem Baume hervorkommend, mit seinem „Gu’n Morgen!“ nach der Pistole greift und sich auf die Bank setzt. Oder wer vermöchte zu widerstehen, wenn Onkel Bräsig dem „entsamten Windhund“ Triddelfitz den Text liest, oder vor der gnädigen Frau Leutnantin den Galanten spielt, wenn er dem lieben Korl die Heilkraft der „Wasserkunst“ auseinandersetzt, wenn er immer und immer wieder als Mann, der drei „Brauten“ zugleich gehabt, auf seine Autorität in der Liebe pocht, oder gegen seine Erhebung zum „Kaiser von Frankreich“ protestirt! Und wen ergriffe nicht die Rührung in dem poetischen Momente, als Bräsig seinem süßen Pathchen Mining mit den „klaren Augen“ die vertrocknete Levkoye als das Einzige, was er hat, zum Brautgeschenk macht und daran den sinnigen Wunsch knüpft: „Wenn Rudolph nach langen Jahren im Stande is, Dich mit denselben klaren Augen diese neue Blume zu übergeben, als ich Dich jetzt diese welke, denn kannst Du sagen: ich bün eine glückliche Frau gewesen.“

Dieses Verhältniß Bräsig’s zur Nüßler’schen Familie ist überhaupt eine der poesievollsten Partien im ganzen Reuter, durch die ein echt deutscher Zug weht. Unser „immerirter Entspecter“ ist Junggesell – Junggesell wider Willen. Sein „gnädigst Herr Graf“ mochte keinen verheiratheten „Entspecter“ leiden; darum mußte er, obwohl mit „drei Brauten auf einmal“ versehen, darauf verzichten, „eine enzelne“ heimzuführen. Eines der Opfer dieser mißgünstigen Verhältnisse ist Hawermann’s Schwester, die nachmalige „Madam Nüßlern“. Bräsig hat zusehen müssen, wie sie ihm ein Anderer vor der Nase weggeheirathet hat, aber kein Mensch kann ihn abhalten, sie noch immer als die schönste und beste Frau zu verehren und ihr „lütt Kropzeug von Dirns“, die beiden Töchter Lining und Mining, als sein eigen zu betrachten. Die Art und Weise, wie unser Künstler dieses rührende Verhältniß mit warmem Herzblut zur Anschauung bringt, das ist für Jeden, der noch zu fühlen versteht, von mächtiger Wirkung.

Genug, ob lachend, ob weinend, ob zärtlich oder grollend, immer steht bei Junkermann die ganze Prachtfigur Fritz Reuter’s vor uns, wie sie in Sprache und Geberde nach der Zeichnung des Dichters sich nicht anders in der Phantasie des Lesers gestalten kann. Und welch ein liebevolles gründliches Versenken in den Geist der Dichtung vorausgegangen sein muß, bevor ein Darsteller so das Gebild in Fleisch und Blut zu übertragen vermag, das wird sich Jeder selbst sagen können, der einen Begriff von den Schwierigkeiten der Schauspielkunst hat.

Daß übrigens ein Mann der Bühne, der noch dazu die Darstellung der Hauptgestalt Reuter’s eine seiner Specialitäten

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_439.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)