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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


uns also nicht mehr sagen, wie das geschehen ist. Aber da sehe ich jetzt erst,“ fuhr er fort, indem er den rechten Arm des Todten, der an der Bank hinabgehangen war, emporhob, „die eine Hand ist glatt und offen; die andere macht eine Faust. Das thut Keiner, der im Fallen ist; der spreizt eher die Fingen auseinander, um sich anzuhalten. Es ist gerade, als wenn er etwas festhalten wollte in der geballten Faust.“

Nicht ohne Anstrengung öffnete er dieselbe und verstummte, mit einem ernsten Blicke unter den Umstehenden umherschauend.

„Schau! Jetzt kann der Todte doch noch reden,“ sagte er dann ernsthaft. „Jetzt wissen wir gewiß, daß kein Unglück geschehen ist, sondern eine Mordthat. Der Bauer hat offenbar mit dem Schelm gerungen, hat ihn gepackt, und da ist ihm das da in der Hand geblieben.“

Ein Schauder überlief die Versammlung, und der Pfarrer faltete die Hände.

In der Hand des Todten lag ein abgerissener Hornknopf, auf welchem ein Hirschkopf abgebildet war.

Auch Wildl hatte sich erhoben und genähert.

Ueber die Todtenhand hinweg fiel der Blick Judika’s auf ihn: unwillkürlich und fast unwissend stieß sie einen grellen Schrei aus, daß Alle erschrocken aufsahen und ihre Augen, die gleiche Richtung verfolgend, ebenfalls sich auf Wildl hefteten.

Alle standen eines Athems Dauer starr und stumm, der Pfarrer aber hob die Hand gegen den Himmel und rief mit erschütterter Stimme:

„Gott der Gerechtigkeit! Deine Wege sind wahrhaft wunderbar.“ Dann streckte er gebieterisch die Hand gegen Wildl aus, der sich wieder der Leiche zuwenden wollte. „Zurück von diesem Todten!“ rief er feierlich. „Du hast kein Theil mehr an ihm. Ist es denn wirklich möglich? Soweit hat Dich die Habsucht und die sinnliche Begierde verführt? So entsetzlich hat Dich Gott verlassen, daß Du es nicht erwarten konntest, bis er den alten Mann in die Ewigkeit abgerufen nach den Gesetzen der Natur? Zurück von diesem Todten, Du – ärger als Kain! Zurück, Vatermörder!“

Wildl stand ihm gegenüber wie versteint und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ein glühendes Roth überzog Stirn und Gesicht, um mit dem nächsten Athemzuge todtenhafter Blässe zu weichen. Er bebte und tastete um sich, als suche er etwas, woran er sich halten könnte, um nicht zusammenzustürzen.

„Aber um Gottes willen, Hochwürden, was denken Sie denn?“ stieß er mit zuckenden Lippen hervor.

„Fragst Du noch?“ rief der Geistliche wieder, indem er den Knopf in die Höhe hielt. „Blicke hierher! Dieser Knopf ist der stumme Zeuge Deines Verbrechens. Im Ringen mit seinem Mörder hat Dein armer Vater denselben daran gefaßt und ihn losgerissen, daß er in seiner Hand geblieben. Blicke dann auf Deine Brust und sieh, daß dort ein Knopf fehlt, daß er gerade zu den anderen paßt und daß die Spur des gewaltsamen Abreißens an Deinem Gewande unverkennbar ist.“

Zusammenzuckend griff Wildl nach der Joppe – es war richtig. An derselben war wirklich ein Knopf losgerissen; der in der Todtenhand paßte dahin und glich den übrigen. – Wie Jemand, der an seinen Sinnen irre zu werden beginnt, faßte er sich mit beiden Händen nach dem Kopfe, der ihm zu zerspringen drohte.

„Jesus, Maria und Joseph!“ stotterte er. „Was wollen Sie von mir, Herr Pfarrer? Der Knopf ist nicht von mir – der an meiner Joppe ist abgerissen, wie ich gestern Nachts auf die Brünnl-Alm hinaufbin; da bin ich am Gewänd in den Absturz hinuntergerutscht.“

„Schlechte Ausrede!“ erwiderte streng der Pfarrer. „Ich wollte, ich könnte Dir jetzt einen Spiegel vorhalten, damit Du sähest, wie auf Deinem Angesichte, wie in Deinem ganzen Wesen das grauenhafte Bekenntniß Deiner furchtbaren Schuld geschrieben steht. Und Du wagst es, zu dieser entsetzlichen That noch die Lüge und die Verstellung zu fügen, statt in Reue zu vergehen? Rede, bekenne, wie kommst Du gerade jetzt hierher? Wohl um Dir den Schein der Unbefangenheit zu geben? Rede: Wo warst Du diese Nacht? Wo in der Stunde des Verbrechens?“

„Ich bin im Walde gewesen,“ stammelte Wildl, „und habe in der Heuhütte übernachtet.“

„Und der Beweis? Hast Du einen Zeugen dafür?“

„Keinen andern als unsern Herrgott!“ war Wildl’s schwache Erwiderung.

„Frevler!“ rief der Pfarrer wieder. „Mißbrauche und entweihe nicht den Namen des Ewigen, der so sichtbar selbst als Zeuge gegen Dich auftritt! Alle Anzeichen sprechen gegen Dich. Der Unglückliche stand Dir im Wege, Deinen Zweck zu erreichen; Du hast in offener Feindschaft mit ihm gestanden. Gestern noch warst Du eben im Begriffe thätlich Hand an ihn zu legen. Du bist aus dem Gewahrsam, in den man Dich zur Vorsicht gebracht, entwichen, und Du hast noch die Stirn, zu leugnen?“

„O, wir haben schon Mittel, ihn zum Reden zu bringen,“ sagte der Gerichtsdiener, indem er näher trat und einen Strick aus der Tasche zog. „Jetzt fängt mein Geschäft an. Her mit den Händen! Wildl, laß Dich binden! Gieb Dich gutwillig, wenn ich Dir gut zum Rathe bin! Du bist mein Arrestant.“

Wildl schrie auf, als der Scherge sich ihm näherte und er den entehrenden Strick gewahrte. Er schien sich zur Wehr setzen zu wollen, aber die Anspannung der Nerven und die Erregung des Blutes war zu groß – plötzlich, wie vor die Stirn getroffen, stürzte er bewußtlos[WS 1] zu Boden.

Der Gerichtsdiener machte sich daran, den Bewußtlosen zu binden. Er kam aber nicht dazu. Judika, welche bisher gleich einer Bildsäule dagestanden, kehrte auf einmal zum Leben wieder und stieß ihn zurück.

„Weg da,“ sagte sie, „das braucht’s nicht beim Wildl. Einen, der sich nicht rühren kann, bindet man nicht, und wenn der Wildl wieder bei ihm selber ist, thut er keinen Widerstand; das weiß ich. Wenn er sieht, daß es einmal nicht anders sein kann, wird er sich in den Willen Gottes geben und selber mit Ihm auf’s Landgericht gehen.“

Es war etwas in Judika’s Wesen, was es dem Gerichtsdiener nicht räthlich erscheinen ließ, sein Vorhaben auszuführen. Er trat bei Seite, indeß die Knechte den zur Besinnung zurückkehrenden Burschen mit Wasser besprengten und vollends aufrichteten. Es kam, wie Judika vorausgesagt. Wildl war wie betäubt, aber er schickte sich an, dem Gerichtsdiener zu folgen, welcher anordnete, daß Jemand bei dem Todten wachen und daß man Alles so lassen solle, wie es sei, bis die Gerichts-Commission eintreffe.

„Das braucht Ihr mir nicht zu sagen,“ rief Judika unwillig. „Das sagt mir schon mein gesunder Menschenverstand. Der Bauer ist todt; der Sohn ist so gut wie todt; ich habe so lange auf dem Himmelmoos gehaust und Ordnung gehalten – ich werde es jetzt auch zuwege bringen.“




4.

Der Octobertag lag noch dunkel auf der Gegend, als vermöge die Nacht sich nicht von dem weithin gebreiteten weichen Schneelager zu trennen, obwohl schon die Stunde des Morgens und der Helle gekommen war. Durch den Nebel schienen bereits die beleuchteten Fenster der Bauernhäuser mit trübem Roth; die Drischeln ertönten schon mit gleichmäßigem Schlage aus den Scheunen; es waren die ersten und einzigen Zeichen, daß das Leben und das Tagewerk desselben den alten, gewöhnlichen Kreislauf wieder aufgenommen, daß Mühe und Sorge des Daseins wieder begonnen.

Mit doppelter Schwere lastete die Nacht und die nächtliche Stimmung auf einem kleinen Gemache des Gerichtsgebäudes, das als Gefängniß benutzt wurde. Die engen Eisengitter vor dem kleinen Fenster machten den Zutritt des Lichtes doppelt schwierig, und zum Ueberflusse stieg vor demselben ein festgefügter Holzkasten empor, welcher selbst von dem verdunkelten Himmel kaum einen handbreiten Streifen erkennen ließ. Auch in diesem Gemache war die Sorge schon wach, aber sie hatte nicht erst geweckt zu werden gebraucht; sie war die ganze Nacht hindurch auf und munter geblieben und auf dem schlechten Strohsacke gesessen oder hatte mit wenigen Schritten den Umfang der Zelle durchmessen, deren Bodenbretter von der gleichmäßige Bewegung früherer Bewohner bereits hohl getreten waren.

Es war eine Kerkerzelle, und der Eingekerkerte war Wildl.

Es war nicht mehr der frühere, stämmige und ungebeugte Bursche mit blühendem Angesichte und mit dem kecken Burschentrotze darin; es war eine müde und bleiche Gestalt, gebeugt wie

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: „bewußlos“
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 448. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_448.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2019)