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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

„goldenen Schnittes“ nähern, der eine gegebene Größe so theilt, daß sich der kleinere Theil zum größeren verhält, wie der letztere zur Summe beider, das heißt zum Ganzen. Ein deutscher Aesthetiker, Adolf Zeising, hat ausführlich dargethan, daß in der Annäherung der Formgliederungen an den goldenen Schnitt das Geheimniß aller „schönen Verhältnisse“ der Formen in Natur und Kunst liegt, und die alten Bauhüttenmeister hätten auch nach der ästhetischen Seite Recht gehabt, die Rose als das Symbol des schönen Ebenmaßes der bildenden Künste zu betrachten.

Von der 2/5-Stellung, die sich in allen fünfblätterigen Kelchen und Blumen wiederholt, sofern ihre Blätter als umgewandelte Stengelblätter betrachtet werden können, deren Schraubenspirale in eine Uhrfederspirale zusammengeschoben ist, haben wir schon Beispiele gesehen; die 1/2- und 1/3-Stellung gewahren wir bei den Pflanzen, deren Blätter, von oben herab gesehen, in zwei oder drei Reihen stehen, zu der letzteren Abtheilung gehören, der Blüthenbildung nach, die große Mehrzahl aller der Pflanzen, die mit einem Blatte keimen, wie Gräser, Palmen, Tulpen, Iris etc. Die 3/8-Stellung, bei der also acht Blätter auf drei Windungen um den Stengel vertheilt sind, finden wir bei den Blättern einiger Wegerich- und Lilienarten, sowie bei den schönen Dickpflanzen, mit denen wir unsere Teppichbeete verzieren (vergl. Fig. 4). Die böse Dreizehn finden wir unter Anderem in den grünen Hüllblättchen des als Liebesorakel benutzten Masliebchen und mehrerer Kreuzkrautarten, sowie in den Blumenblättern der Einerarien, die darauf folgende Einundzwanzig in den fleischigen Hüllblättern der Artischocke, die wir genießen, und in den trockenen Hüllblättern der Kornblume, über die wir uns freuen, und wir können an diesen letzteren Beispielen besonders gut erkennen, wie sich die fünf und acht Umgänge, um die es sich in diesen Fällen handelt, scheinbar (wie die beiden der Rose) zu einem einzigen Umgange zusammenschieben.

„Einundzwanzig schnurgerade Zeilen
Ziegelschuppig zeigt der Tannenzapfen,
Gleiches thut mit Nadel, denk’, die Fichte
Und die Föhre gar mit Nadelpärchen –“

so singt der Mitentdecker dieser Wunder Karl Schimper in seinem liebenswürdigen, „Flieder und Goldlack“ betitelten „poetischen Brief über Zahlen und Dinge“, in welchem er „Zumpt dem Kleinen gleich“ zur Nachhülfe des Gedächtnisses die augenfälligsten der in unserer Flora vorkommenden Zahlenverhältnisse aufgezählt hat. Sehr häufig geht ein und dieselbe Pflanze im Laufe ihrer persönlichen Entwickelung von einfacheren zu zusammengesetzteren Verhältnissen über. So beginnt der gemeine Löwenzahn, wie alle Zweiblattkeimer, mit dem einfachsten Verhältnisse (1/2), geht dann bei den Wurzelblättern zur 2/5-Stellung, im Kelch zur 5/13- und in den Blüthentheilen zur 8/21-Stellung über. Die höheren Glieder der oben angeführten Reihe: 21/55, 34/89, 55/144, 89/233 etc. erkennen wir in den prächtige Schraubenlinien um den Stamm bildenden Blattnarben der Siegel- und Schuppenbäume aus der Steinkohlenzeit, an dem künstlerisch vollendeten Pinienzapfen, mit welchem die Baumeister des Alterthums gern ihre Kuppelbauten krönten, in den streng nach der Regel angeordneten Stacheln der Kugel- und Igel-Cactusarten, in den herrliche Rosetten bildenden Blättern der Agaven- und Hauslaubarten, in den Blüthenscheiben der Korbblumen, deren größte, die Sonnenblume, schon dem Knaben, der ihre reifen Früchtchen verzehrt, eine Ahnung ihres erstaunlich abgezirkelten Baues erweckt. Von dem bienenwabenförmigen Blüthenboden der schönen Karlsdistel (Carlina) oder Eberwurz, die, fast stengellos im Boden wurzelnd, bei Gebirgspartien unsere Aufmerksamkeit erregt, von den Häkchen der Klette, welche die wilden Dorfbuben sich in’s Haar wirren, und von den Blüthchen und Früchtchen der Sonnenblume sagt unser poetischer Naturforscher:

„Fünfundfünfzig Reihen schöner Zellen
Schwingen da sich rein durch vierunddreißig,
Und es stehn die Löcher wie der Klette
Neunundachtzigfache Freundschaftshäkchen.
Höher steigend kreuzen gleicherweise
Bei der Sonnenblume fünfundfünfzig
Neunundachtzig Zeilen gold’ner Krüglein,
Hundertvierundvierzigfacher Richtung,
Wenn auch noch bei großen Sonnenblumen
Weiter selbst zweihundertdreiunddreißig
Strahlen einer blühenden Gesellschaft.“

Aus den letzteren Zeilen ersieht man, daß ein gewöhnlich vorkommendes Stellungsverhältniß nicht selten bei besonders kräftigen Exemplaren durch das nächst höhere ersetzt ist, aber der Unterschied ist, was den Winkelabstand des einen Blattes von dem andern folgenden anbetrifft, nicht erheblich, denn er nähert sich in all diesen höhern Gliedern immer mehr dem Durchschnittswinkel von 1371/2 Grad, der also in vielen tausend Fällen bei sonst gar nicht mit einander verwandten Pflanzen wiederkehrt.

Höchst selten nur bemerken wir beim Nachrechnen dieser ziemlich „knifflichen“ Exempel, daß sich die bildende Natur eines Rechenfehlers schuldig gemacht hätte, etwa einmal 234 Blüthen statt 233 auf 89 Umgänge vertheilt hätte. Man darf sich bei Bestimmung dieser Zahlen, z. B. an den Tannenzapfen, nicht irre führen lassen durch Nebenreihen, die oft viel stärker in’s Auge fallen, als die Grundspirale. Der Nenner des Bruches wird stets durch die Zahlen der genau senkrechten Reihen des Zapfens etc. ausgedrückt. Aber auch die Nebenspiralen ergeben stets Zahlen, die der Gesammtreihe angehören, und so ein Tannen- oder Pinienzapfen ist für den Mathematiker, der sich darauf versteht, ein Gegenstand andächtigen Studiums.

Das Geheimniß, in welches uns die Rose einführt, ist noch keineswegs endgültig gelöst. Die neuere Botanik hat Wichtigeres zu thun, als darüber zu grübeln, welches der letzte Grund sei, der bald dreizehn Blätter auf fünf Umgänge und bald neunundachtzig auf vierunddreißig vertheilt. Da es außerdem an Ausnahmen und Stellungsverhältnissen, die jener Reihe nicht angehören, nicht fehlt, so will sie die durch unzählige Beispiele verbürgte Regel kaum mehr für verbindlich anerkennen, womit sie freilich nur sich selber beschämt. Indessen ist die höchst wahrscheinlich richtige Erklärung dieser unser Erstaunen weckenden tiefen Gesetzmäßigkeit schon früher von dem Botaniker Hofmeister geahnt und in jüngster Zeit von J. Fankhauser dargelegt worden. Danach wäre die Ursache in einer höchst einfachen mechanischen Beeinflussung der immer an der Spitze des Pflanzentriebes entstehenden neuen Blattanlagen durch ihre nächstälteren Brüder zu suchen. Hofmeister bereits stellte die Regel auf, daß das neue Blatt immer über der größten Lücke entstehe, welche die beiden zuletzt vorhergegangenen Blättter zwischen sich lassen. wahrscheinlich weil auf diesem Grenzpunkte der Bildungstrieb am lebhaftesten ist. Wenn z. B., wie bei vielen Lippenblumen und Gentianen, immer zwei Blätter einander gegenüberstehen, so werden die nächsten beiden diese Stellung kreuzen. Stehen die ihren Einfluß übenden Blätter aber nicht auf gleicher Höhe am Stengel und sind sie deshalb ungleich kräftig, ist das jüngere in rascherer Entwickelung begriffen als das nächstältere, so sind die Bedingungen zu einer spiraligen Anordnung gegeben. Ist die Basis des jüngsten Blattes sehr verbreitert oder gar stengelumfassend mit gleich starken Rändern, so entsteht das nächste Blatt um 180 Grad von dem vorigen entfernt; die 1/2-Stellung der Gräser und anderer Monokotyledonen (Pflanzen mit einlappigem Samen), sowie einzelner Dikotyledonen (Gewächse mit zweilappigem Samen). Eine ebenso gleichmäßige Eintheilung in den Stengelumfang für eine Windung ist auch noch bei drei Blättern (1/3) möglich. Anders wird die Sache, wenn nicht nur zwei, sondern noch mehr Blätter ihren Einfluß auf die nachentstehenden äußern. Der ungleiche Einfluß derselben bedingt alsdann eine complicirtere Anordnung. Man muß zunächst daran denken, daß das vorletzte Blatt immer einen größeren Einfluß ausüben wird, als das vorvorletzte; daher entsteht das neue Blatt (aus der Vogelperspective gesehen) letzterem näher, und dieser Einfluß wird noch zusammengesetzter, wenn bei dichter Beblätterung des Stengels auch das viertletzte und folgende ein Wort mitzureden haben, wie dies bei einer gedrängten dachziegelschuppigen Anordnung der Fall ist. Darum wird also in diesen Fällen die Spirale eine windungsreichere werden.

Diese mechanische Erklärung befriedigt im Allgemeinen und bestätigt die Meinung Zeising’s, daß der Bildungstrieb der Proportion des goldenen Schnittes:

     1 : 2 : 3 : 5 : 8 : 13 : 21 : 34 etc.

folgt, weil dieselbe in der einfachsten Weise jedes Glied durch das nächste zum Ganzen in ein einfaches Verhältniß bringt. Aus diesem Grunde finden wir nicht nur die Pflanzenblätter nach dieser geheimen Mathematik, die uns am lesbarsten im Rosenkelche entgegentritt, geordnet, sondern Zeising konnte dieselben Gesetze des goldenen Schnittes auch in der Gliederung des menschlichen Körpers und in dem Ebenmaße aller Künste nachweisen.

Carus Sterne.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 453. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_453.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)