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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Menschen ich heute an seinem Hause vorbei transportirt hätte; er habe uns durch das Fenster gesehen und in dem Vagabunden einen Mann wiedererkannt, der früher schon einmal bei ihm gearbeitet habe. Sagte ich Ihnen nicht gleich, hinter dem Kerl stecke etwas? Gelogen hat er doch, das ist sicher.“

„Schön – sagen Sie dem Uhrmacher, er möge um fünf Uhr auf das Gericht kommen!“

Um die bestimmte Zeit waren der Vagabund, der Gerichtsschreiber und ich in der Amtsstube zusammen. Es klopfte. Herr Winter trat ein, sagte „Guten Tag“, sah sich den Vagabunden an und ging dann mit einem freundlichen: „Ei, Joseph! Wo kommen Sie denn her?“ auf denselben zu.

Der Vagabund verzog keine Miene, nur schoß ein böser Blick aus seinen grauen Augen, als er gleichgültig auf holländisch sagte: „Was wollen Sie von mir? Ich kenne Sie nicht.“

„Es ist merkwürdig,“ wandte sich der Uhrmacher zu mir, „welch kurzes Gedächtniß der Mann hat. Vor etwa vier Jahren ist er eines Abends spät ganz abgerissen in mein Haus gekommen und hat flehentlich um Essen gebeten. Ich verwies ihm das Betteln und sagte ihm, er solle Arbeit suchen. Da bat er, ich möchte ihm doch Arbeit geben; er verstehe etwas von der Uhrmacherei und wolle sich anstrengen, mich zufrieden zu stellen. Ich hatte damals gerade Hülfe nöthig und da habe ich ihn denn behalten.“

„Zeigte er sich denn wirklich als gelernter Uhrmacher?“

„Ich sage Ihnen, das ist ein wahrer Teufelskerl; sogar die feinen Sachen verstand er wenigstens so gut wie ich, ja er hat eine Spieluhr für unsern Pastor wieder in Gang gebracht, deren Reparatur mir nie gelingen wollte. Ich habe ihn sehr hoch geschätzt und gab ihm das auch zu verstehen, aber, als er eines Morgens nicht zur Arbeit kam, ging ich auf seine Stube und fand den Vogel ausgeflogen. Er ist etwa sechs Wochen bei mir gewesen.“

„Wie hieß er denn damals?“

„Joseph; den Familiennamen habe ich vergessen.“

„Van den Bruck?“

„Gott bewahre! Er hatte einen viel gewöhnlicheren Namen.“

„Und sprach gut deutsch?“

„Gewiß, so gut wie wir Beide.“

„Hatte er keine Legitimationspapiere?“

„Nein, über sein früheres Leben habe ich Nichts erfahren.“

„Und Sie können bestimmt behaupten, daß dieser Mann, der hier vor uns steht, derselbe ist, der vor vier Jahren bei Ihnen gearbeitet hat?“

„Gewiß, das ist derselbe, so wahr, wie ich hier stehe.“

Eine Frage an den Vagabunden, ob er noch immer Holländer sein wolle, beantwortete dieser mit Achselzucken. Nachdem der Uhrmacher seine Aussage beeidigt hatte, wies ich denselben an, auf die Polizei zu gehen und dort nachschlagen zu lassen, unter welchem Namen er den Gesellen damals angemeldet habe. Herr Winter erklärte aber, er hätte die Anmeldung im Drange der Geschäfte unterlassen, und so waren wir denn, was den Namen betraf, wieder so weit wie zuvor. Der Uhrmacher erinnerte sich jedoch, daß er vor vier Jahren einen Lehrling gehabt habe, der jetzt noch in der Stadt wohne und den Namen des Gesellen vielleicht behalten habe. Der ehemalige Lehrling wurde herbeigeholt; auch er erkannte den Vagabunden mit der größten Bestimmtheit wieder, ihm war aber nicht einmal dessen Vorname im Gedächtniß geblieben. Herr Jan van den Bruck wurde wieder abgeführt, und es blieb nunmehr nichts Anderes übrig als die Polizei auf die Spur zu setzen und Nachforschungen zu halten, die an des Vagabunden Aufenthalt in der Stadt anknüpften. Mit diesen gingen die nächsten acht Tage hin, aber fruchtlos. Ich wollte ihn schon unter dem von ihm angegebenen Namen verurtheilen, um kurzen Proceß zu machen – da bat er eines Tages um Vorführung und erklärte im fließendsten, etwas südlich gefärbten Deutsch Folgendes:

„Daraus, daß Sie mich so lange sitzen lassen, sehe ich, daß Sie von der Holländerei Nichts glauben. Ich will die Sache abkürzen und sage Ihnen deshalb die Wahrheit. Ich heiße Karl Astor, bin in Bremerhaven zu Hause und bisher auf Kauffahrteidampfern als Maschinenwärter und auch als Ingenieur, je nachdem es kam, gefahren. Zuletzt bin ich zwei Jahre lang auf einem russischen Schiffe bei der Maschine gewesen. Ich bin vor einem halben Jahre in London entlassen und habe mich dort einige Zeit aufgehalten. Dann bin ich über Amsterdam hierher gekommen.“

„Wo haben Sie denn Ihr Seefahrtsbuch?“

„Das hat mir mein Boardingmaster in London weggenommen, um ein Pfand dafür zu haben, daß ich ihm nicht mit dem Kostgeld durchginge. Da ich letzteres aber nicht bezahlen konnte, habe ich ihm das Buch gelassen.“

„Sie wollten nach Serbien, sagten Sie früher.“

„Nein, ich wollte wieder zu dem alten Esel, dem Winter, der mich jetzt so in's Pech geritten hat, und bei ihm Arbeit suchen. Ich habe das Bummeln satt.“

„Wenn Sie aus Bremerhaven sind, so werden Sie mir wohl das Haus bezeichnen können, in dem Sie zuletzt gewohnt haben.“

„Das habe ich vergessen.“

„Lebte Ihr Vater in Bremerhaven?“

„Ja, er war Ballastverkäufer.“

„Können Sie mir nicht wenigstens die Straße sagen, in der dieser zuletzt gewohnt hat?“

Der Vagabund bedachte sich einige Augenblicke; dann sagte er rasch: „Kirchplatz,“ und gab auf weiteres Befragen auch die Hausnummer 8 an. Ich versuchte noch mehr Thatsachen aus ihm herauszubringen, aber vergeblich. Als ich ihn schließlich fragte, warum er denn die holländische Komödie gespielt habe, erwiderte er kurz: „Ich dachte, Sie würden mich sofort über die Grenze bringen lassen; das wäre mir am liebsten gewesen.“

An demselben Abend noch wurde in Bremerhaven telegraphisch angefragt, ob die Aussage des Vagabunden richtig sei. Als Bescheid kam zurück: „Karl Astor völlig unbekannt. Kirchplatz, Nummer 8 existirt nicht.“ Mit diesem Bescheide ging ich ärgerlich zu dem Beschuldigten in das Gefängniß.

„Sie namenloses Individuum!“ sagte ich zu dem Vagabunden, der sehr verwundert schien, mich sobald wiederzusehen, „welche unnütze Schreiberei verursachen Sie mir da! Die Polizei in Bremerhaven kennt Sie ja gar nicht.“

„Das thut mir leid,“ erwiderte der Vagabund kaltblütig, „der Herr erste Bürgermeister dort hat mich wohl schon sechsmal persönlich verwarnt und abgeurtheilt, wenn ich an irgend einer Schlägerei oder Ruhestörung betheiligt gewesen war, und nun wollen die mich nicht kennen!“

„Was sagen Sie denn dazu, daß es in Bremerhaven keinen Kirchplatz giebt?“

„Dazu sage ich,“ erwiderte der Namenlose mit der größten Ruhe, „daß die Bremerhavener die Namen ihrer eigenen Straßen nicht zu kennen scheinen.“

„Ich will Ihnen etwas Anderes sagen,“ eröffnete ich ihm, „wenn die Polizei aus Bremen telegraphirt, Sie seien dort unbekannt, dann haben Sie dort nie mit der Polizei zu thun gehabt, und wenn sie sagt, daß es keinen Kirchplatz gebe, so giebt es eben keinen. Wie heißen Sie und woher sind Sie? Ich bin der Schauspielerei müde.“

Der Vagabund sah mich einen Augenblick von unten herauf wie prüfend an; dann entgegnete er mit einer Art von Geringschätzung: „Wenn Sie das jemals herausbekommen, dann will ich nicht …“ er wollte offenbar seinen Namen nennen mit dem Schlusse „heißen“, besann sich aber noch frühzeitig genug und schloß: „dann will ich katholisch werden.“ –

Lebten wir noch in der schönen Zeit, wo das Prügeln erlaubt war, so würde ich seinen Namen binnen zehn Minuten erfahren haben, aber jetzt gehörte mehr Zeit dazu. Doch die längste würde vielleicht nicht hingereicht haben, wäre nicht wieder unser Wachtmeister zu Hülfe gekommen. Kurz nach der letzten Unterredung kam er triumphirend zu mir und zeigte einen Brief vor.

„Herr Amtsrichter,“ sagte er, „ich glaube, wir haben ihn. Diesen Brief hat heute der Postbote für den Vagabunden in der Herberge abgegeben – lesen Sie einmal!“

Der Brief, den der Wachtmeister übergab, war offenbar von einer weiblichen Hand adressirt und zwar „An Herrn Jan van den Bruck in B.“ In dem Umschlage steckte ein halber Bogen Briefpapier, auf den dieselbe Hand geschrieben hatte: „Nimm Dir in Acht, sie sind hinter Dich!“ Ort, Zeit und Unterschrift fehlten.

„Ja, ja,“ sagte ich zu dem Wachtmeister, „Sie behalten Recht; diese Verwarnung scheint auf einen gefährlichen Verbrecher

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 493. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_493.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)