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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„Sie ist also nicht fähig, die wirkliche Musik und Dein innerstes Wesen zu verstehen, nicht einmal durch das Gefühl,“ bemerkte ich.

Er schwieg eine Weile und sagte dann: „Harriet gefällt Dir nicht, ich habe es gleich anfangs bemerkt. Was hast Du an ihr auszusetzen?“

„Nichts, als daß sie Dich heirathen will.“

„Wenn sie Dich heirathen wollte, hättest Du vielleicht nichts daran auszusetzen,“ sagte er piquirt.

„O! mich heirathen! In diesen Fall würde sie nie gerathen. Lieber keine Frau, als eine Frau ohne Seele!“ rief ich.

„Du wirst beleidigend,“ sagte Henry gereizt. „Hast Du denn kein Auge für ihre Schönheit? Ist sie nicht tadellos, bezaubernd schön?“

„Sie ist zu schön,“ sagte ich.

„Zu schön! Fühlst Du denn nicht die Poesie, die in einer vollendeten Schönheit liegt, und die Gedanken, die ein Mann von Geist aus ihr schöpfen kann?“

„Ei, so kaufe Dir eine lebensgroße Venus von Milo und eine von Medicis, eine von Arles, eine Venus Genitrix und eine Venus Urania, alle Meisterwerke der alten und neuen Bildhauerei und begeistere Dich daran! Du brauchst dann keine Harriet Stephenson.“

Er lachte. „Du bist ein Pedant,“ sagte er. „Du hast wohl noch nie in ihr blaues Auge geschaut?“

„O ja, ich schaue immer und suche und finde nichts darin, als blaue Farbe.“

„Dann findest Du in dem meinen wohl auch nichts, als grüne Farbe?“ sagte er lachend, aber sein Lachen war bitter.

Am folgenden Tage gingen wir mit ihr über die Straße. Ein blinder Mann stand in der Wölbung einer Hausthür und schaute mit den weißen, leeren Augen unverwandt zum Himmel, als ob er dort etwas suchte. Ein schwarzer Pudel war mit einer Schnur an seinen Arm gebunden und hielt ein leeres Körbchen zwischen den Zähnen; seine Augen, die des Pudels, drückten das Unglück seines Herrn aus, rührender, als irgend Worte es vermocht hätten. Henry und ich blieben stehen, um ein Geldstück in das leere Körbchen zu legen.

„Wenn wir bei jedem Bettler, dem wir begegnen werden, stehen bleiben, so werden wir nicht weit kommen,“ sagte Mistreß Stephenson übelgelaunt.

Henry wurde sehr blaß. „Ich kann keine Blinden sehen, ohne daß sich mir das Herz im Leibe umkehrt,“ erwiderte er sanft.

„O, wenn man in London lebt, gewöhnt man sich an solche Dinge,“ sagte sie und zog ihn fort. Er ging schweigend an ihrer Seite. Wir wohnten einem Morgenconcerte bei; der Zufall wollte, daß wir nicht drei Plätze nebeneinander fanden. Ich wollte mich von Henry und seiner Braut trennen; er faßte meinen Arm und sagte: „Bitte, setze Dich neben Harriet! Ich setze mich seitwärts.“

Er will sie beobachten, dachte ich; er that es wirklich; sein Auge ruhte unverwandt auf ihr; ich bin überzeugt, daß er vom ganzen Concerte nichts hörte. Sie nahm oft ihre Lorgnette und musterte die Hüte und die Kleider der anwesenden Damen; sie gähnte siebenmal, und obschon sie ihre Hand vor den Mund hielt, sah er es dennoch. Nach dem Concerte fuhren wir nach Hydepark. Henry setzte sich ihr gegenüber, sprach wenig, sah aber beinahe unverwandt in die Augen seiner Braut. Er fand diesmal vielleicht auch nichts darin, als blaue Farbe. – Wenn Mistreß Stephenson nur ein schwaches Fünkchen von Geist besessen hätte, so würde sie den beobachtenden Blick ihres Bräutigams verstanden haben, allein sie blieb völlig unbefangen; es ging gar nichts in ihr vor.

Da ich sah, daß Henry anfing, sie zu beobachten, hoffte ich, er werde zeitig genug seinen Irrthum erkennen. Indessen sann ich auf ein Mittel, ihn von London zu entfernen, da Mistreß Stephenson, wenn sie mit ihm allein war, vielleicht Liebenswürdigkeiten für ihn hatte, die ihn stets wieder in die Verblendung zurückführen konnten.

Da kam unerwartete Hülfe. Die neue Regierung rief ihn nach Brüssel, um ihm eine Stellung am Observatorium anzubieten; die näheren Bedingungen sollten mündlich zwischen ihm und dem Director des Observatoriums besprochen werden.

„Es ist fatal,“ sagte Henry, der sehr erregt mit dem Briefe zu mir kam, „daß meine Verheirathung erst in einigen Wochen stattfinden kann, denn ich werde bis dahin meine Abreise nach Brüssel aufschieben müssen. Harriet sagt, es sei ihr unmöglich, ihre Papiere, ihren Haushalt und ich weiß nicht was für Dinge noch früher in Ordnung zu bringen.“

„Reise gleich und hole Deine Braut später!“ sagte ich.

„Meinst Du? – Ich kann das nicht wohl thun; ich kann Harriet nicht so allein lassen.“

„Warum nicht?“

„Ich fürchte, sie wird einen solchen Vorschlag sehr empfindlich aufnehmen.“

„Es handelt sich aber um eine wichtige Sache, um Deine Stellung –“

„Ich weiß.“ Er schritt unruhig im Zimmer auf und ab; plötzlich nahm er seinen Hut und ging mit den Worten: „Wir reisen morgen, Du und ich, Harriet muß einwilligen, ich gehe, ihr meine Abreise anzuzeigen.“

Er konnte kaum auf der Treppe gewesen sein, als er die Thür wieder öffnete und mit wunderschön verklärtem Gesicht und weicher Stimme sagte: „Ich habe, seit ich hier bin, fast gar nie an meine Mutter gedacht; welche Freude wird sie haben, mich wieder zu sehen! Auf jeden Fall reisen wir morgen.“

Als er gegangen war, fragte ich mich, ob er wirklich körperlich eben unter der Thür gestanden?

Am folgenden Tage reisten wir nach Dover, und am zweiten fuhren wir auf dem Meere Ostende zu. Es gingen damals bekanntlich noch keine Dampfschiffe. Man brauchte bei gutem Wind etwa einen Tag und eine Nacht, um von Dover nach Ostende zu fahren. Ich hatte das Unglück, nach kaum einer Stunde so seekrank zu werden, daß ich mich weder um die Schönheit des Meeres, noch um die Passagiere bekümmern konnte, sondern, auf meiner Matratze in der Nähe des Steuermanns liegend, mich ganz dem unbeschreiblichen Gefühle meines Elends hingab. Henry, der nicht seekrank war, kam von Zeit zu Zeit zu mir, bedauerte mich, pries die Herrlichkeit des Meeres, den Genuß der frischen Seeluft und schien die Trennung von Mistreß Stephenson recht gut zu ertragen.

Gegen Abend, als die Sonne Gold und Purpur in das Meer goß und der blaue Himmel rosenroth ward, ertönte am andern Ende des Schiffes Henry’s Geige. Die süßen Töne einer leidenschaftlichen Klage schwebten über das stille Meer hin. Ich erhob den Blick: die weißen Segel, in welchen die Brise sanfte Hügel schwellen ließ, waren von zarter Gluth überhaucht, während die Segelstangen dunkelroth erglühten und das Tauwerk golden schimmerte. Mit leisem Murmeln trugen uns die durchschnittenen Wellen; dann und wann ging der schrille Ruf einer Möve durch die Luft. Als ich den Blick wieder senkte, hatte das Deck, auf dem ich lag, einen Goldglanz, so intensiv und strahlend, daß ich darüber erschrak. Das Gesicht des Steuermanns war wie von rothem Licht getränkt, und auf seiner Jacke lag eine Atmosphäre von Goldstaub. Ich schloß die Augen und betete, gleich einem alten Perser, die Sonne an. Vom Gebet kam ich in’s Träumen. Die Geige sang und weinte und jubelte und schluchzte wie ein Mensch; sie hatte Töne, die mir das Herz buchstäblich erzittern machten. Ich habe oft gedacht, die Musik besitze nicht nur eine seelische Macht, sondern auch eine substantiöse, wie etwa der Wein. Die Musik kann auch berauschen.

Ich hatte lange mit geschlossenen Augen gelegen und den Tönen der Geige gelauscht; plötzlich fühlte ich eine sonderbare elektrische Spannung in meinem Körper; ein Luftstoß fuhr heiß über mein Gesicht, und ihm folgte der kalte Gischt des Wassers. Ich erhob mich und rieb mir die Augen. Die Sonne war untergegangen; das Meer hatte eine kalte, schwarzgrüne Farbe, und der Horizont war violet und von schwefelgelben Streifen durchschnitten, welche in kurzer Zeit ihre Farbe verloren und bleigrau wurden.

„Wir werden ein Gewitter bekommen, nicht wahr?“ fragte ich den Steuermann.

„Möglich,“ antwortete er ruhig.

Ich fühlte keine Seekrankheit mehr; im Gegentheil, ich fühlte mich froh und außerordentlich angeregt. Henry stand, gegen Westen gewandt, am Geländer des Schiffes, ganz in Musik verloren; seine Geige und er waren Eins geworden. Indem ich auf ihn zutrat, bemerkte ich die wenigen Passagiere, die theils stehend, theils sitzend seinem Spiele lauschten. Unter ihnen fielen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 501. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_501.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)