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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Grunde preisgaben. Aber unbekümmert um die Zwischenfälle, unbekümmert um die Getroffenen und Versunkenen steuern die russisches Boote auf das Ziel los, der Tag ist der Nacht vollständig gewichen. Das Ufer ja erreicht, aber nun gilt es, die Anhöhe zu erklimmen. Fürwahr, das ja nicht leicht, mit Sack und Pack, ohne das Gewehr aus der Hand zu lassen, ohne die Patronentasche zu degarniren. Der Soldat muß da zur Katze werden. Wieder sind es Kosaken, die mit Zurücklassung ihrer Pferde zuerst hinaufschleichen und aus ihren Karabinern auf die Peabodys der Türken antworten. Und vorwärts kraucht es durch die Gebüsche, unbekümmert um die Cameraden, die auch hier, vom mörderischen Blei getroffen, zurückbleiben. Da ertönt wildes, ungestümes Hurrah auf der linken Seite des Hügels: etwa hundert Kosaken haben sich unbemerkt durch einen schmalen Pfad, einander auf die Achseln kletternd, emporgeschwungen; sie fallen den Türken in die Flanke. Nach den ersten abgefeuerten Schüssen werfen die Söhne des Don den Karabiner weg und dringen mit der Lanzenspitze auf den Feind ein. Die Türken aber sind mit dem Bajonnet nicht faul und bieten Paroli; es giebt ein Streiten und Ringen, während die übrigen türkischen Tirailleure unverfroren in den von Russen und Türken gebildeten Knäuel hineinpfeffern. Doch dieser Flankenangriff bringt dem Tage seine Entscheidung. Die von dem Beispiele der Vorhut angeeiferten Russen klettern nun ebenfalls wie die geschicktesten Seiltänzer und spießen die Türken von vorn, während sie die Uebrigen mit Lanze und Bajonnet in die Seite stechen.

Ein frisch aufgeworfener Hügel bezeichnet die Stelle, wo dieser Kampf Mann gegen Mann stattgefunden. Siebenzig Russen und vierzig Türken haben hier, bunt durcheinander gewürfelt, die letzte Ruhestätte gefunden, die wohl nach dem Kriege durch ein einfaches, den Heldensinn der Streiter beider Nationen ehrendes Kreuz dem Reisenden bezeichnet werden wird.

Und nun bergauf, den nämlichen Weg, den die landenden Russen verfolgten, als sie sich anschickten, die Früchte ihres Sieges zu pflücken. Der Pfad, der nach dem Vororte von Sistowa und von da nach Sistowa selbst führt, ist schmal, sehr holprig, ist nichts weniger als eine Kunststraße. Der Telegraph, der die Communication mit Rustschuk nach der einen und Nikopolis nach der andern Seite sichert, war an mehreren Stellen gewaltsam abgeschnitten. Der Weg auf dem Plateau führte uns durch die Batterie, von der aus die Türken drei Stunden lang, trotzdem die Position eine herrliche ist, ohne Schaden die Reserve der Russen beschossen hatten. Dagegen hatten die Russen in sehr glücklichem Wurfe ihre Bescheerungen bis hierher gesandt. Auf dem Boden lagen noch mehrere kleine, sehr zierliche Granaten, die zu explodiren vergessen hatten, und ein Bauernhäuschen am Ausgange der Verschanzung zeigte gar gewaltige Löcher in den Wänden links und rechts, abgesehen vom Dachstuhle, der Regen und Sonnenschein entgegengähnte. Auch hier zeugten Hügel von der Bestattung gefallener Krieger des Christenthums und des Islams.

Endlich standen wir am Eingange jener türkischen Vorstadt von Sistowa, wo sich die Russen zuerst etablirten und ihre Truppen concentrirten, um in ansehnlicher Zahl in der Stadt selbst zu erscheinen. Ein solches türkisches Dorf entbehrt vor Allem der schnurgeraden „Hauptgasse“, die bei europäischen Ortschaften unerläßlich ist. Es giebt hier überhaupt gar keine Straßen mit regelmäßigen Häuserreihen, sondern blos auf's Gerathewohl bunt durch einander laufende oder über einander gestapelte Hütten, wovon jede von einem hübschen wohlgepflegten Gemüse- und Pflanzengarten umgeben ist, die wilden Reben, die grünen Kukuruzhalme, die Kürbisse etc. maskiren vollkommen eine solche Bauernhütte, wo eine türkische Familie wohnt. Garten und Häuschen erfreuen sich einer Plankenumzäunung, welche jedoch dem Kriege zu Ehren an mancher Stelle gewaltsam durchbrochen ist. Die Schlafstätte der türkischen Familie befindet sich in dieser heißen Jahreszeit unter einer Veranda, welche zum Hause eine Außengalerie bildet. Hier und da waren noch unter den Verandas drei bis vier symmetrisch geordnete Strohsäcke zu sehen – aber mit aufgetrenntem Bauche, denn man hatte darin nach Baarschaften gesucht, und in der Eile den Inhalt an Wolle und Seegras überall verschüttet. Die Stuben, oder richtiger die Stube eines solchen türkischen Landhauses ist klein, eng, mit auffallend niedrigem Plafond. Den Boden bedecken die landesüblichen Matten, die dem Osmanen oft das ganze Mobiliar ersetzen. Ob es überhaupt ein anderes Mobiliar in diesen Stuben je gegeben, danach fragt mich nicht, denn es war in dem Augenblicke, wo wir Sistowa mit unserer Gegenwart beehrten, keine Spur mehr zu finden. Alles war auf's Gewissenhafteste ausgekramt, Alles, um einen weiland technischen Ausdruck zu gebrauchen, „gerettet“. Von wem? Darüber giebt es ebenso viel Lesarten, wie über einen angefochtenen Paragraphen des Koran. Die Bulgaren in Sistowa erzählen, die Türken haben aus Bosheit, ehe sie sich aus dem Staube machten, selbst Alles vernichtet und zertrümmert, damit es nicht in die Hände der Russen fiele; die Russen wieder, welche wohl fühlen, daß eine solche Lesart im Zahne wackelt, schieben die Plünderung den eingeborenen Bulgaren zu, die sich wegen der vorjährigen Ausschreitungen schadlos halten wollten. Die dritte Version aber ist die einfachste und geläufigste, daß nämlich die von dem so eben bestandenen mörderischen Kampfe erhitzten Kosaken das Dorf, in welches sie eingedrungen waren – ein wenig nach Kriegsbrauch, wenn nicht nach Kriegsrecht behandelten. Thatsache ist, daß der Anblick, welcher sich in den Hütten des türkischen Dorfes vor Sistowa bot, sich auch in dem türkischen Quartiere der Stadt selbst wiederholte.

Sistowa hat eine sehr große Ausdehnung. Die verschiedenartigen Baulichkeiten der Stadt reichen von dem Gipfel eines ziemlich hohen Hügels bis an die Donau hinunter. Geht man den Hügel bergauf, so wandert man durch das Türkenquartier – welches man sehr leicht an dem charakteristischsten Merkmale erkennt, den kleinen mehrfach vergitterten Jalousien, welche auf die Anwesenheit des sorgsam gehüteten Hausschatzes, des Harem deuten; es versteht sich aber von selbst, daß die Vögel ausgeflogen waren. Hier, namentlich aber in den Häusern mit dem vergitterten Präservativ häuslichen Glückes, war Alles mit Berserkerwuth zertrümmert, die Thüren waren aus den Angeln gerissen, die Fensterläden hingen lose auf die Straße hinaus, die Gewölbe der Kaufleute waren mit der wild hinüber und herüber geschleuderten Waare besäet; in den Boutiquen, wie in den Wohnungen war Alles traurig und öde – denn die Auswanderung, als der Ruf ertönte: „die Moskows kommen“, war eine allgemeine gewesen. Sie rannten davon, als hätten sie alle Würgengel des jüngsten Gerichts hinter sich. Und was hätten sie auch thun mögen, die strenggläubigen Osmanen in der von Giaurs genommenen Stadt, wo die „Christenhunde“ schaarenweise in die heiligen Räume der Moscheen gedrungen waren und hier im geweihten Raume, den der wahre Gläubige nur mit entblößten Füßen betritt, den ärgsten Spott getrieben hatten. Der Erdboden aller drei Gotteshäuser in Sistowa war, als wir denselben betraten, voller Schutt, die Kandelaber, welche die gläsernen Lämpchen stützen, waren in Trümmern, und das Geländer, welches oberhalb des Raumes für die Gläubigen einige verzierte Sitze und die Kanzel des Iman umzäunt, war an mehreren Stellen durchbrochen. Von dem Minaret drang nicht mehr der mahnende Ruf an die gottesfürchtigen Muselmänner zum Gebete, sondern nur der spöttische Ausruf eines russischen Officiers, der sich der herrlichen Aussicht freut, die man oben genießt.

Einen grellen Contrast zu dem türkischen Viertel bildet das bis an die Donau reichende bulgarische. Drüben war man bereits in Asien, hier kehrt man nach Europa zurück, statt der ärmlichen Hütten findet man hier ganz anständige Gehöfte und reinliche, wohlgebaute Bürgerhäuser. Durch die Hauptstraße zieht sich eine lange Reihe von Boutiquen, auf deren Vorhängeläden ein weißes Kreuz gemalt ist. Soll wohl heißen. „Freund Ruß, bin guter Christ, und laß mich ungeschoren.“ Man findet in diesen Buden so ziemlich Alles, ja den Hauptplatz decoriren sogar zwei sehr stattliche Apotheken mit gemaltem, lebensgroßem allegorischem Schilde. Wo es Apotheken giebt, steckt ein deutscher Gehülfe – wenn der Herr Pharmaceut selbst nicht germanischen Ursprungs ist. Richtig fanden wir auch in einigen der medicinischen Laboratorien einen ehrlichen Oesterreicher, der in Friedenszeiten auf der Route nach Tirnowa ein Gut verwaltet, für den Moment aber zu den Blutegeln und Brausepulvern seiner ersten studirenden Jugend zurückkehrte.

Der wackere Mann bot sich sofort als Cicerone an und war sogar bereitwillig genug, uns zu der in Simnitza weitgerühmten Restauration hinüber zu schleifen. Er erzählte uns, daß die Türken, wie sie die ersten Schüsse vor der Stadt fallen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 513. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_513.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)