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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


im Herzen. Verzeihen Sie mir demnach! Ich sehe jetzt, daß Ihr Gesicht jung ist. Haben Sie – haben Sie gestern die Geige gespielt?“

„Nein, dieser hier!“ antwortete ich und zeigte mit dem Blick auf Henry.

„Ich bitte Sie, meine Herren, besuchen Sie mich in Brüssel! Ich lebe still; ich sehe Niemanden bei mir, aber Sie werde ich mit Vergnügen empfangen. Wenn man mit einander Schiffbruch gelitten hat, so ist es, als ob man sich schon seit Jahren kennte.“

Nun ging sie; mein Ohr folgte dem Laut ihrer Holzschuhe, bis er sich auf der Treppe verlor.

Gleich nach unserer Ankunft in Brüssel gingen Henry und ich nach Madame Venloo’s Wohnung. Die alte Frau öffnete uns die Hausthür und führte uns durch den weiten Flur, an dessen Ende ein mit Bäumen geschmückter Hof sichtbar wurde, in eine große Stube, wo am offenen Fenster ein blondes junges Mädchen saß und Spitzen klöppelte. Als wir eintraten, erhob sie sich und sagte ahnungsvoll: „Ist meinem Vater ein Unglück begegnet?“ Wir beruhigten sie und vermieden in unserer Erzählung alle Umstände, welche sie auf’s Neue hätten in Angst versetzen können.

Die alte Frau, Denise Raick, Caspar’s Schwester, sank auf einen Stuhl, als sie den Schiffbruch vernahm, und rief ihren Schutzheiligen an. Und dann: „O, die gute Madame Venloo! O, Madame Venloo ist eine Heilige. Sie verläßt ihren alten Diener nicht; sie bleibt bei ihm; sie pflegt ihn. Marion,“ sie wandte sich zu dem jungen Mädchen – „Marion, Du wirst ihr die Füße küssen, wenn sie kommt. Ja, meine Herren, eine Heilige ist sie. Als ihr Mann in Spanien gestorben war und ihr Vater auch, da nahm sie den alten Caspar und sein Kind zu sich und sie ehrt ihn, als ob er ein Herr wäre, und er war doch nur der Gehülfe ihres Vaters. Dieser war aus unserem Lande, meine Herren, aber er ging jung nach Spanien und schliff dort die Edelsteine des Königs und der Königin und wurde ein reicher Herr und da ließ er den Caspar nach Spanien kommen. Das ist sehr weit, meine Herren, und das Land ist sehr heiß, und da wollte er die Marion nicht mitnehmen, die noch ein ganz kleines Kind war und keine Mutter mehr hatte, und so blieb sie bei mir, und mein Bruder schickte immer Geld. Ja, meine Herren, er hat alles bezahlt, alles, was die Marion gelernt hat. Und die gute Madame Venloo verlor auch ihre Mutter früh, die war eine Spanierin, meine Herren, ja, eine Spanierin, und das sind sehr stolze Frauenzimmer. Aber die gute Madame Venloo ist nicht einmal eine halbe Spanierin; sie ist ganz der Vater. Nur die schwarze Farbe hat sie von der Mutter. Und jetzt ist es schon über ein Jahr, daß sie mit dem Caspar gekommen ist, und da hat sie dieses Haus gemiethet und uns alle dann zu sich genommen. Sie ist eine Heilige und hat eine große Traurigkeit in ihrem Gemüth. Und da kommt sie manchmal mit ihren kleinen Füßen zu mir herunter und sagt: ‚Meine gute, liebe Madame Denise,‘ ja, meine Herren, immer sagt sie: ‚meine gute, liebe Madame Denise – erzählen Sie mir eine von Ihren alten Geschichten, damit ich ein wenig lachen kann.‘“

Und jetzt erst holte sie Athem, die gute, liebe Madame Denise. Die blonde Marion, die wie auf Kohlen gestanden hatte, benützte die Pause und fragte, ob sie nicht etwa Madame Venloo einige Kleidungsstücke schicken solle. Henry sagte ihr, daß die ihrigen wohl trocknen würden, daß sie Schuhe von Ostende kommen lassen werde und bis dahin Holzschuhe trage.

„Holzschuhe!“ rief Madame Denise, „das zarte, feine Frauchen Holzschuhe! Siehst Du, Marion, sie ist gar nicht so stolz und gar nicht eitel, ich hab’ es immer gesagt, und sie hat doch viel kleinere Füße als Du!“

Marion versteckte schnell ihre Füße, und da sie gleich darauf mit einer geschickten Wendung aus dem Zimmer lief, gleich einem scheuen Hasen, so konnte ich nicht schnell genug erfahren, ob ihre Füße groß oder klein waren. Wir saßen noch eine Weile bei Madame Denise, welche die Schleuße ihrer unbeschreiblichen Beredsamkeit über uns ergoß. Wir erfuhren, natürlich ohne zu fragen, daß Madame Venloo einen spanischen hohen Beamten geheirathet habe, der vor zwei Jahren gestorben sei; daß sie eigentlich nicht Venloo, sondern Huesbar heiße, aber hier in Brüssel den Namen ihres Vaters führe. Der spanische Gesandte allein kenne ihren wahren Namen und sei auch der einzige Mensch, dessen Besuche sie annehme.

„Huesbar – wo habe ich nur diesen Namen schon gehört?“ sagte Henry, als wir in meine Stube traten.

„In Spanien vermuthlich,“ bemerkte ich.

„Ja wohl, in Spanien, allein es waren besondere Umstände damit verknüpft, deren ich mich nicht mehr erinnere.“

Am nächsten Morgen ging Henry zum Director des Observatoriums und brachte mir nach zwei Stunden die erfreuliche Nachricht, daß er nun mit einem nicht unbedeutenden Gehalte dem Observatorium angehöre. Mit dieser frohen Botschaft fuhr er nach Dinant zu seiner Mutter. „Vergiß nicht, an Mistreß Stephenson zu schreiben!“ sagte ich lächelnd, als er in den Postwagen stieg. Eine auffallende Blässe überzog sein Gesicht: „Wie habe ich dies bis jetzt vergessen können?“ rief er und fuhr mit der Hand über die Stirn, auf welche eine finstere Falte trat. „Es ist merkwürdig, ich habe im Sturm, im Augenblick des Todes nicht an Harriet gedacht. – O welch schlechtes Gedächtniß hat mein Herz!“

Mein Schatz, der wohnt in Engelland
Und schaut auf’s Meer hinaus
Und über das Meer in’s Niederland –

blies der Postillon. „Hörst Du, was er bläst?“ fragte Henry, mich mit Schrecken anblickend – und fort rollte der Wagen.

Drei Tage nach Henry’s Abreise kam Madame Venloo mit Caspar Raick in Brüssel an. Sie wußte nicht, daß ich ihr gegenüber wohnte; ich hatte es auch der mittheilsamen Madame Denise verschwiegen. Am Tage ihrer Ankunft waren die Erkerfenster weit geöffnet worden und hatten mir einen Einblick in das Zimmer gestattet. Ich sah, daß es außerordentlich groß und mit einem dunkeln, tiefrothen Stoffe tapezirt war.

Mit Hülfe einer Opernlunette entdeckte ich eine rothe Ampel, welche von dem mit großen, wahrscheinlich mythologischen Figuren bemalten Plafond an messingener Kette herabhing, die blaßgrünen Gardinen eines Himmelbettes und einen hohen weißen Marmorkamin, dessen tief herabgehendes Dach von Säulen gestützt wurde, an welchen ich eine guirlandenartige Vergoldung wahrnahm.

Hier also schlief Madame Venloo; hier träumte sie; hier hatte sie, am mittelalterlichen Heerde sitzend, die „tiefe Traurigkeit im Gemüth“.

Da ich Henry in den nächsten Tagen zurückerwartete, verschob ich meinen Besuch bei ihr bis nach seiner Ankunft.

Seine erste Frage an mich war: „Ist Madame Venloo angekommen?“ und seine zweite: „Ist ein Brief von Harriet für mich hier?“

Ich konnte ihm beide Fragen mit „Ja“ beantworten.

Er öffnete den Brief und sagte: „Welch sonderbare Handschrift!“ Dann las er schnell die zwei beschriebenen Seiten; sein Gesicht wurde roth, und er steckte das Blatt in seine Tasche.

„Hast Du gute Nachrichten?“

Er antwortete nicht.

„Was schreibt Mistreß Harriet?“

„Ich weiß es nicht.“

„Du weißt es nicht? Du hast ja soeben den Brief gelesen –“

„In dem Briefe steht nichts,“ sagte er kurz.

„Sie hat Dir doch kein leeres Blatt geschickt,“ fuhr ich unbarmherzig fort.

„O – willst Du die Ueberschrift sehen? Aber nur die Ueberschrift!“

Er nahm das Blatt aus seiner Tasche und gab es mir. Unter den großen, in einer Vignette ruhenden goldenen Buchstaben H und S standen die schläfrig geschriebenen Worte: „Mein lieber kleiner Master Flomberg!“

Ich mußte lachen.

„Du findest das wohl hübsch?“ fuhr mich Henry an.

„Ich hätte nicht gedacht, daß Mistreß Harriet so originell sein könnte,“ gab ich ihm zur Antwort; „was schreibt sie wegen unseres Schiffbruches?“

„Sie ist ‚verry happy‘, daß ich nicht ertrunken bin.“

Er setzte sich und stand wieder auf und setzte sich wieder; dann trat er an’s Fenster und lüftete ein wenig den Vorhang. „Findest Du nicht,“ sagte er, „daß die blaßgrünen Gardinen da drüben außerordentlich sympathisch sind?“

„Ja, sehr sympathisch.“

„Wann werden wir Madame Venloo unsern Besuch machen?“

„Sobald Du willst.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 516. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_516.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)