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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„Danke Deiner Mutter!“ sagte ich zu Henry, „sie schickte Mistreß Stephenson Dein Buch, weil sie seine Wirkung voraussah.“

Seine Augen füllten sich mit Thränen; er setzte sich an seinen Tisch und schrieb an seine Mutter. Eine Stunde später ging er zu Charlotte Venloo; ich blieb in der untern Stube, Caspar Raick erwartend, der, nachdem er Madame Venloo nach Hause begleitet hatte, nochmals ausgegangen war. Mit dem Auge die Höhe der Hofmauer messend, erkannte ich, daß ein gewandter Mensch sie leicht erklimmen konnte, da sie nicht nur weniger als acht Fuß hoch war, sondern auch durch die Ungleichheit und Rauhheit der Steine dem Fuße genügenden Anhalt gab. Ich mochte eine halbe Stunde gewartet haben, als Henry hereintrat; ich erschrak – er sah zerstört aus; sein Gesicht, starr und weiß, war wie verkalkt. Er nahm meinen Arm und zog mich aus der Stube, aus dem Hause und über die Straße. In meinem Zimmer angekommen, zog ich ihn auf den Divan, setzte mich zu ihm, und faßte seine Hände, die eiskalt waren. Er sprach lange kein Wort, dann stieß er finster heraus: „Sie will mich nicht.“

„Sprich, was ist geschehen?“

„Sie will mich nicht,“ wiederholte er und sah vor sich nieder.

„Henry, ich bitte Dich, sage mir, was ist geschehen? Komm zu Dir!“

Er schüttelte traurig mit dem Kopfe. Nach einer grausam langen Viertelstunde begann er wieder:

„Sie saß in der Ecke, an meinem Lieblingsplatze; ich setzte mich ihr zur Seite auf den kleinen Stuhl, den sie gestickt hat. Lange blieb ich stumm, nachdem sie auf meine Frage, ob sie sich ganz erholt habe, mit bebender Stimme ‚O ja‘ geantwortet. Das Herz klopfte mir so stark, daß ich fast keine Stimme hatte, als ich sagte:

‚Haben Sie gestern einen Stern gefunden, auf welchem Sie Ihre nächste Existenz, Ihre nächste Phase durchleben möchten?‘

‚Ja, den Arkturus,‘ antwortete sie sehr leise.

‚Arkturus ist auch mein Lieblingsstern,‘ sagte ich mit Anstrengung; sie sah zur Erde:

‚Arkturus ist wohl sehr weit von uns?‘ frug sie matt.

‚Ja, sehr weit; sein Licht braucht zweiundzwanzig Jahre, bis es zu uns gelangt.‘

‚Arkturus’ System,‘ sagte sie, ‚ist vielleicht so hoher Art, daß ich trotz allen Strebens der Incarnation noch nicht würdig sein werde, nach diesem Dasein auf einem seiner Planeten oder gar auf ihm selbst zu leben.‘

‚O, streben Sie nicht nach zu großer Vollkommenheit!‘ bat ich, ‚ich bin so unvollkommen. Und der Gedanke, für ein anderes Leben von Ihnen getrennt zu werden, ist – er könnte mich um den Verstand bringen.‘

Es ging ein Schauer über ihre ganze Gestalt; mir hämmerten die Schläfe und das Herz, ich rang nach Worten und fand sie nicht. Endlich stammelte ich:

‚Denn – denn es genügt mir nicht einmal, mit Ihnen denselben Planeten zu bewohnen – ich möchte – wie die Luft dem Feuer sich verwebt, so möchte ich mich Ihnen, schönste, edelste Frau, verweben.‘

Und ich sank vor ihr auf’s Knie. Sie bedeckte ihr Angesicht mit beiden Händen und streckte dann, sich zurückbeugend, beide Hände abwehrend gegen mich aus. Ich ergriff sie im Taumel, diese zitternden Hände und bedeckte mein Angesicht damit. Meine Seele war im Fieber, im himmlischen Fieber; ich fand keine Worte, keinen Athem – ich trank, ich trank ihre Seele aus ihren Händen. O! o, ich war doppelt, hundertfach, tausendfach! Da, da tönte, schwach wie die Klage eines sterbenden Opfers, ihre Stimme:

‚Lassen Sie mich – lassen Sie mich! Ich werde die Ihre nicht.‘

Wie der Tod die Kraft der Muskeln bricht, so brach mich ihr letztes Wort. Meine Hände ließen die ihren und sanken auf ihren Schooß. Ich hatte nicht den Muth, sie anzusehen.

‚Können Sie das letzte Wort noch einmal sagen?‘ lallte ich.

‚Nicht‘, stieß sie hervor, und ihr Ton war gebrochen.

Jetzt sah ich sie an – ihr liebes Angesicht war weiß und starr, ihre Augen geschlossen.

‚Leben Sie wohl, Charlotte!‘ sagte ich und drückte meine kalten Lippen auf ihre kalte Stirn.

Sie zuckte und sagte mit derselben gebrochenen Stimme:

‚Gehen Sie!‘ Und da – da ging ich.“

Er schwieg jetzt. Ich hatte nicht den Muth, ihm irgend Trost zu geben; ein wahrer Schmerz läßt sich nicht trösten. Allein ich hoffte für Henry, weil ich die Vermuthung in mir trug, ein Gespräch mit Caspar Raick werde mir Aufklärung über den gestrigen Vorfall und über Madame Venloo’s Vergangenheit geben. Ich war überzeugt, daß Charlotte Henry liebte; Caspar konnte mir gewiß sagen, warum sie meinen Freund ausschlug. Hatte sie vielleicht ein Gelübde gethan, sich nicht wieder zu verheirathen? Hatte sie Vialez früher gekannt und ihn ausgeschlagen, und fürchtete sie seine Rache?

„Ich bin ruhelos, um hier zu bleiben; ich muß gehen, laufen, rennen,“ sagte Henry und riß die Thür auf.

„Laß mich mit Dir gehen!“

„Nein, ich will allein sein. Erwarte mich nicht vor Abend!“ rief er und verließ mein Zimmer.

Zweimal ging ich hinüber, um Caspar zu sprechen; beide Male traf ich ihn nicht. Caspar, wo bist Du? Ich kann Deine Tochter nicht einsperren, aber Du kannst, und Du mußt es. Mit einer unbezwinglichen Angst lief ich von einer Straße in die andere; zum dritten Male ging ich zu Madame Denise, nach Caspar zu fragen; er war noch nicht zurück.

„Haben Sie denn keine Ahnung, wo er sein könnte?“ fragte ich seine Schwester.

„Nein,“ sagte sie. „Er ging, nachdem er Madame Venloo zurückgebracht, und ohne nur einen Bissen zu essen; er muß wichtige Geschäfte haben.“

Als ich wieder in meine Stube trat, fand ich Henry schlafend auf dem Bette liegen. Mit aller Vorsicht setzte ich mich in’s Fenster und beobachtete den Erker; ich glaubte einen Vorhang sich bewegen zu sehen; Madame Venloo war wohl in ihrem Schlafzimmer. Nach und nach dunkelte es, und ich versank in Träume. Ich sah Charlotte mit offenen Augen auf dem weißen Pfühle liegen, die Hände auf’s Herz gedrückt; die rothe Ampel schimmerte durch die blaßgrünen Gardinen des Bettes und warf Lichtstreifen auf den Pfühl und auf Charlotte’s blasses Gesicht. Ich hörte Henry’s Geige und sah die Wiese bei Salaert und die dunkle, geschlossene Form der Obstbäume, welche sie begrenzen; ich sah den Himmel voll funkelnder Sterne, die blaue Wega und den feurigen Arktur und meinen schwarzen Stern auf dem Feldstühlchen; ich hörte das Brausen des Meeres und fühlte Charlotte’s weiche Gestalt in meinem Arm und schwamm mit ihr durch die Wogen und ertrank mit ihr, und unsere Seelen lösten sich vom Wasser und stiegen empor, empor, einer silbernen Sonne entgegen, die immer größer wurde, aber nicht heißer, sondern kälter, und wir stießen auf die Eissonne und Charlotte that einen Schrei.

Ich fuhr aus meinen Träumen auf und rieb mir die Stirn; da gellte dumpf der gleiche Schrei durch die Finsterniß von der Straße her, von drüben her – Henry fuhr vom Bette auf: „Es hat Jemand geschrieen,“ sagte er und riß ein Fenster auf. Noch ein Schrei. – „Das ist Charlotte!“ Wir stürzten Beide aus dem Zimmer. In weniger als einer Secunde läuteten wir an Madame Venloo’s Hause; Denise öffnete und schlug ein Kreuz: „Ich wollte Sie eben holen. Jesus und Maria! Madame Venloo wird ermordet; sie schreit, und ihr Zimmer ist von innen geschlossen.“

Ich sprang in die Küche und nahm eine Axt; Henry war schon oben und versuchte mit der Ferse die Thür zu Charlotte’s Zimmer einzustoßen; nach drei Axthieben sprang sie auf.

(Fortsetzung folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_534.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)