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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


die Erhaltung des Gehecks zum Angriffe auf diesen theuren Sprößling des Mutterrehs anspornt und seine Erfindungsgabe in den Künsten der Ueberlistung auf die Höhe der möglichsten Befähigung stellt. Der Kampf der Abwehr aber zeigt sich bei dem Reh nicht minder bewunderungswürdig. Der mütterliche Trieb giebt ungewöhnlichen Muth, spannt die Kräfte und Bewegungsmuskeln, setzt die prügelnden Vorderläufe in wirbelnde Bewegung. Aehnlich wehrt die von Natur feige Hasenmutter dem eindringenden Kolkraben zum Schutze des entdeckte „Satzes“. Denselben Kampf kämpfen Maulwurf und Spitzmaus, Ratte und Hamster in der unterirdischen Wohnung und um dieselbe sowie um die Nachkommenschaft – denselben Kampf, den die Bewohner der Bäume und der Erdoberfläche kämpfen. Das nächtliche Schleichen der Löwin in Wüste und Urwald, ihre Sorge um Schutz und Schirm der Jungen vor dem schonungslosen eigenen Vater derselben, ihre nächtlichen Raubzüge und ihre tägliche Treue, mit der sie das Versteck und Lager mit den Schützlingen theilt – ja, das ist derselbe Kampf wie das unablässige Ab- und Zufliegen des Finkenpaares beim Neste und das verzweiflungsvolle Schreien und Umflattern, womit es den Räuber seiner heißgeliebten Brut verfolgt.

Es offenbart sich in den mannigfaltigen Kämpfen innerhalb des Familienlebens der Thiere gar viel Beherzigenswerthes, Geist und Gemüth des Naturfreundes Fesselndes. Bald leuchten uns die Blitze der unverkennbarsten Intelligenz von den Bahnen der Klugheit und listigen Unternehmungen der Thiere; bald werden Saiten des Gemüthslebens, rührender Empfindungen angeschlagen; bald besiegelt eine That todesverachtender Hingebung eine Treue und Anhänglichkeit, die nur darum kein Vorbild für den Menschen sein kann, weil in kurzer Zeit der Trauer die Wunde verharscht, da das Thier wie der Mensch im frühen Kindheitsalter ein Tageskind ist, das heißt der Gegenwart lebt und der Reflexion entbehrt.

Mögen wir immerhin in dem Idealismus der Liebe unseres Strebens Ziel erblicken, nie dürfen wir vergessen, daß auch die menschliche Liebe aus dem Boden des realen Lebens, aus der ununterbrochenen Folge der Kämpfe um Erhaltung dessen, was uns das Theuerste ist, ihre Nahrung und Thatkraft zieht. Auch wir sind dem allmächtigen Naturtrieb unterthan, nur daß wir uns dessen klarer bewußt sind, als das Thier, und das Geistesvermögen unter den erziehenden Einflüssen der Cultur zum vernünftigen Regulator berufen ist. Auch wir formen uns nach Sitte und Gewohnheit, wie nach den Banden des Blutes. Wenn die sittliche Entrüstung und das tiefgekränkte Ehrgefühl den Einzelnen oder ein Volk zur Tilgung oder Abwehr der Schmach antreiben, so ist dies eine That, die den Menschen hoch über das Thier stellt, wiewohl ich manchem im Umgang mit Menschen erzogenen Thiere ein gewisses Ehrgefühl nicht absprechen kann.

Wenn aber der Vater oder gar die ohnmächtige Mutter dem Kinde rasch in die schäumende Wassertiefe oder in die Flammen nachspringt, so folgen Beide dem überwältigenden Naturtriebe, und ich möchte mir keine Entscheidung darüber erlauben, ob jene oder diese That erhabener und bewunderungswürdiger sei. Der Kampf dehnt sich aber über das engere Familienleben der Thiere hinaus und ist jedem einzelnen Individuum wie ganzen Gesellschaften verordnet, und auch hier ist er ein innerer und äußerer. Der vom Aste herab dem Wilde auf dem Wechsel auflauernde Luchs findet wohl vermöge seiner ihn dazu anleitenden Naturanlage befriedigendes Behagen im Geheimniß des Hinterhaltes, und die Geduld ist ihm unstreitig angeboren, aber wenn er seine kochende Mordlust, seine blutlechzende Zunge bändigt und in regungsloser Entsagung das ausersehene Opfer unangefochten ziehen läßt, weil ihm der Sprung aus der Höhe in den Nacken desselben zu weit und unsicher dünkt, so ist dies ein glänzender Sieg der Ueberlegung über den heißen Naturtrieb, ein Resultat der Erfahrung. Junge unerfahrene Kätzchen sehen wir hundertmal zur unrechten Zeit den Sprung nach Vogel und Maus unternehmen, aber die alte Katze liegt ausdauernd auf der Lauer und beherrscht sich bis zum Eintritt des günstigen Augenblicks, während die Glieder vor Aufregung zittern und die Windungen des vom Körper gedeckten Schwanzes die gefesselte Leidenschaft verrathen.

Das Zusammenschaaren der Kraniche, Wildgänse, Wildenten, Trappen, Schwäne, Störche, Krähen und Staare, Finken, Zeisige, Ammer und Hänflinge zur Herbstzeit geschieht unter Anweisung des Naturtriebs, der unverkennbar dem Kampfe gegen die auf dem Zug und der Wanderschaft oder beim Ueberwintern in der Heimath entgegenstehenden Hindernisse zu Hülfe kommt, aber die Erfahrung bildet, und die Weisheit ist auch hier bei den Alten zu suchen, welche die Führerschaft übernehmen und eine große Vielseitigkeit in allen Unternehmungen bekunden.

Jugend und Mangel an Erfahrung lassen das junge Huhn auf dem Hofe in jedem verdächtig scheinenden Punkt in der Luft den Habicht erkennen; das Auge der alten Henne prüft mit weit größerer Sicherheit, und ihr beruhigendes Benehmen corrigirt den Fehler. Naturtrieb und Ueberlegung sind im Kampf des Thieres oft innig verbunden, so daß die Grenze zwischen beiden nicht mit Sicherheit festzustellen ist. Die Natur weist die Stockente an, vor dem Habicht oder Wanderfalken im Wasser Zuflucht zu suchen, aber ihr Entschluß, nahe dem Fluß, der ein besserer Schutz für sie wäre, den sie aber nicht mehr erreichen zu können glaubt, vor dem dicht hinter ihr hereilenden Räuber sich schnurstracks in eine Pfütze zu stürzen, giebt Zeugniß von der zu Hülfe kommenden Ueberlegung. Die Wagnisse einer großen Krähenschaar sogar dem Wolfe gegenüber, der den schweren Raub mit Anstrengung nach dem Walde schleppt, und ihr Sieg über ihn, den ihren Schnabelhieben Weichenden, ist neben dem bewegenden Naturtrieb dem wohlbewußten Gefühle zuzuschreiben: „vereinte Kraft macht stark.“ Der Kolkrabe und unser Fuchs sind gewiß keine gesellig lebenden Thiere; trotzdem verbinden sich im Winter mehrere Kolkraben und nicht selten zwei Füchse, um gemeinschaftlich ein Wild zu jagen. Die Hindernisse und Schwierigkeiten, die sich ihrem Begehren entgegenstellen, veranlassen sie gegen den Trieb der Isolirung zum gemeinschaftlichen Kampf um einen Preis, mit dessen Eroberung sogleich Mißgunst und selbstische Gier die Verbündeten trennt und einen neuen Kampf, den gehässigen Zweikampf, in Scene setzt.

Die Elster flieht den Jäger, wenn dieser in großer Entfernung auf sie zu kommt, während sie sorglos dem Bauer hinter dem Pfluge folgt. Dort überwindet die Erfahrung den Ernährungstrieb; hier gestattet sie ihm freien Lauf. Einer unserer Hunde, bei dem sich im Umgange mit dem Menschen nicht bloß die Ueberlegung, sondern auch das Gewissen zu hohem Grade herausgebildet hatte, rührte den Braten vor seiner Nase nicht an, wie verführerisch und lustweckend ihm auch der Duft in die Nüstern zog. Beschämt ein solcher zum Siege geführter Kampf der Selbstbeherrschung nicht in unzähligen Fällen den Menschen? Und doch wollen so Viele die Gabe des Seelenlebens als ausschließliches menschliches Eigenthum für sich in Anspruch nehmen? Es giebt Kämpfe edelraciger Hunde, innerliche und äußerliche, die wahre Charakterkämpfe zu nennen sind und die ein rührend schönes Verhältniß zwischen dem Menschen und dem Hunde begründen. Und wenn die unmenschliche Parforcedressur der Hunde mehr und mehr verschwindet und die Erziehung bei fester Hand doch in Milde und vertrauenweckender Freundlichkeit mit ihren Eindrücken zur Zeit der bildungsfähigen Jugend beginnt und stufenweise vom Leichten zum Schwierigen vorschreitet, so hat man erkannt, daß dieser Bildungsgang in gleicher Weise Individualisirung und wahre Humanität erfordert, wie derjenige in unseren Familien und Schulen.

Lange genug hat man das Thier mißhandelt und nur als Geschöpf im Dienste der Menschen betrachtet, dem keine Ansprüche auf gefühlvolle Rücksicht und freudvolles Dasein zuzugestehen seien, und sogar das Wort aus der naiven Ueberlieferung, welche uns die Darstellung paradiesischer Anfangszustände schildert: „herrschet über die Thiere!“ mag, von der Seite der Gewaltsamkeit erfaßt, nicht wenig dazu beigetragen haben, schon dem ungezogensten Schulbuben Stock und Peitsche in die Hand zu geben. Daß man jetzt einer menschenwürdigen Auffassung des Verhältnisses zwischen Mensch und Thier sich immer mehr zugänglich zeigt, gereicht uns selbst zur größte Ehre und ist ein Zeugniß, daß wir weniger thierisch sind, als ehedem. Wir wollen den harten Kampf des Thieres nicht noch härter machen, sondern ihn möglichst erleichtern; wir wollen das erniedrigende Thierische in der Menschheit niederkämpfen und das erhebende Menschliche in der Thierwelt zur Anerkennung erheben.

Karl Müller.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 590. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_590.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)