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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

blieben. Die Nephiter breiteten sich nach Osten, Westen und Norden aus, bedeckten die Thäler und Ebenen mit Städten und Dörfern, erbauten Getreide und zogen zahlreiche Heerden von Hausthieren. Sie kannten den Gebrauch von Gold, Silber, Kupfer und Eisen. Künste und Wissenschaften blühten unter ihnen.

Die Lamaniter brachten durch ihres Herzens Härtigkeit und Bosheit viele und schwere Heimsuchungen auf sich herab. Doch wurden sie als Nation nicht vertilgt, sondern nur aus einem weißen und wohlgebildeten Geschlechte in ein kupferrothes, häßliches und unreines verwandelt. Sie waren Leute von finsterer, wilder und roher Sinnesart und überzogen die Nephiter wiederholt in zahllosen Schaaren mit Krieg.

Die zweite Colonie, deren Begründer, wie erwähnt, zehn Jahre nach Lehi’s Auswanderung Palästina verlassen hatte, führte in Amerika den Namen des Volkes von Zarahemla. Sie hatten viel von Bürgerkriegen zu leiden, und da ihre Angehörigen keine schriftlichen Ueberlieferungen mitgebracht hatten, war ihre Sprache allmählich ausgeartet, auch wußten sie nichts vom Dasein Gottes mehr. Als die Nephiter sie endlich entdeckten, befanden sie sich in einem Zustande, der nur wenig von dem der Wilden verschieden war. Aber jene belehrten sie und verbanden sich schließlich mit ihnen zu einer Nation.

Indem die Kinder Nephi sich fortwährend weiter ausbreiteten, rückten sie allgemach bis zum Isthmus von Darien vor, wo sie Schiffe bauten und endlich mit mehreren großen Flotten nach Nordamerika hinüberfuhren, welches im Laufe einiger Jahrhunderte dicht von ihnen bevölkert wurde. Für ihr geistiges Wohlergehen war gesorgt. Auch hier nämlich erweckte der Herr von Geschlecht zu Geschlecht unter ihnen Propheten, und die Führung von Chroniken wurde hier so wenig vernachlässigt, wie südlich von ihren Wohnsitzen. Dazu kam, daß von den Bürgern der Stadt Limhi die beschriebenen Platten, welche der Prophet Ether hinterlassen hatte, aufgefunden und vermittelst der Urim und Thummim, der wunderbaren Dolmetscherbrille, die dabei lag, (es war dieselbe, welche Smith später in der Steinkiste des Berges Cumorah fand) in die nephitische Sprache übersetzt wurden. Die heiligen Seher des Volkes aber verkündeten die Erscheinung des Messias im Fleische, seine Wiederkunft und sein tausendjähriges Friedensreich. Selbst das Auftreten Joseph Smith’s wurde (Buch Nephi 2, 2) damals schon prophezeit, indem es von ihm hieß, er werde „groß wie Moses“ sein, und er solle „keine andere Arbeit verrichten, als die, welche ihm der Herr gebiete“.

Die Geburt und der Tod des Heilandes wurden den Nephitern von Gott durch außerordentliche Naturereignisse kund gethan, welche sich im Jahre 1 und 33 unserer Zeitrechnung in Erfüllung mehrerer alter Weissagungen einstellten. Aber sie waren nach und nach in Verkehrtheiten und Laster verfallen. Deshalb wurden sie um die Zeit des Todes Christi mit strengen Strafen heimgesucht: Dichte Finsterniß bedeckte drei Tage lang das gesammte Festland. Ein furchtbares Erdbeben wüthete verheerend von einem Meeresstrande zum andern. Felsen zerrissen; Berge sanken zu Thälern ein, und Thäler schwollen zu Bergen empor. Seen liefen ab, und Flüsse änderten ihren Lauf. Große Städte, wie Zarahemla und Mokum, stürzten in Trümmer; Salzseen flutheten an der Stelle verschlungener Ortschaften; Feuer regnete vom Himmel auf Kischkumen und Josch, und der ganze gottlosere Theil der Nephiter sowie der Lamaniter wurde vertilgt.

Diejenigen aber, welche diese grauenvolle Katastrophe überlebten, wurden mit einer persönlichen Erscheinung Jesu Christi begnadigt. Denn nachdem er in Jerusalem von den Todten auferstanden und gen Himmel gefahren war, stieg er in Gegenwart der Nephiter, welche um ihren Tempel im Lande Bountiful versammelt waren, wieder zur Erde herab. Er zeigte ihnen seine Seitenwunde und Nägelmale, hieß sie das seither von ihnen befolgte Gesetz Mosis abthun, an dessen Stelle das Evangelium annehmen und wählte sich zwölf Jünger, deren Namen Nephi, Timotheus, Jonas, Mathoni, Mathoniha Kumen Kumenonhi, Jeremia, Schemnon, Jonas der Andere, Zedekia und Jesaia waren. Außerdem wurden von ihm die Kinder der Nephiter gesegnet; er setzte die Sacramente ein, verrichtete verschiedene Wunder, legte dem Volke seine heiligen Schriften aus und machte ihnen alle künftigen Dinge bis zu seiner Wiederkunft und die Schöpfung eines neuen Himmels und einer neuen Erde bekannt.

Alle diese Reden und Thaten Jesu wurden auf Täfelchen verzeichnet, von deren Inhalt sich Einiges im Buche Mormon’s findet. Der größere und wichtigere Theil jedoch ist darin ausgelassen und soll den Heiligen erst später übergeben werden.

Nachdem der Erlöser nun sein Werk in Amerika vollendet hatte, stieg er wieder gen Himmel. Die Apostel aber, welche er erwählt, zogen durch das Land und bekehrten nicht nur die Nephiter, sondern auch viele von den Lamanitern. Der durch ihre Erfolge hervorgerufene gottselige Zustand des Volkes erhielt sich länger als drei Jahrhunderte in seiner Reinheit. Allmählich rissen indeß Unglaube und Ungerechtigkeit wieder ein, und gegen das Ende des vierten Jahrhunderts der christlichen Aera hatte die Verderbniß sich zu solcher Ruchlosigkeit gesteigert, daß die Langmuth des Herrn strafendem Zorne Raum machte. Ein furchtbarer Krieg brach zwischen den Lamanitern und den jetzt nur noch in Nordamerika wohnenden Nephitern aus, und dessen Ausgang war die fast vollständige Vernichtung der Letzteren auf und bei dem Berge Cumorah, wo sich der Rest der Nation verschanzt hatte.

Unter den Ueberlebenden befanden sich der Prophet und Oberfeldherr der Nephiter Mormon und dessen Sohn Moroni, von denen der Erstgenannte einen Auszug aus den schriftlichen Ueberlieferungen seiner Vorväter gemacht hatte, welchen er nebst seinen eigenen Denkwürdigkeiten seinem Sohne zur Vollendung übergab. Moroni führte die Chronik seines Vaters noch einige Jahre fort, und wir erfahren durch ihn, daß die Lamaniter die Wenigen von den Nephitern, welche sich nach dem Süden geflüchtet, so lange verfolgten und unter Martern tödteten, bis die ganze Nation, ihn selbst ausgenommen, der sich versteckt hielt, vertilgt war. Er berichtet ferner, daß die Lamaniter nach dem Untergange ihrer Gegner unter sich selbst in Streit geriethen und daß in Folge dessen ganz Amerika lange Jahre hindurch ein einziger großer Schauplatz von Verwirrung und Blutvergießen war. Er schließt endlich seine Geschichte im Jahre 424 nach Christi Geburt, um die Platten, auf die er sie geschrieben, zu denen zu legen, die sein Vater in den heiligen Berg Cumorah verborgen hat, wo das Ganze, wie erzählt, vierzehn Jahrhunderte später von Joseph Smith gefunden wurde.

Ueberflüssig wäre nach dieser Uebersicht über den Inhalt der Mormonenbibel ein Versuch, darzuthun, daß dieselbe keinerlei geschichtlichen Werth hat, sondern von Anfang bis zu Ende Erfindung und schlechte Nachahmung der heiligen Schriften Alten und Neuen Testaments ist. Es leidet keinen Zweifel, daß das Buch von einer Doppelpersönlichkeit verfaßt worden ist, welche einestheils – und dies ist der Eisenwerksbesitzer Salomon Spaulding – damit eine Erklärung amerikanischer Antiquitäten in einer Art Romanform liefern wollte, anderntheils aber – und dies ist der Exsetzer und Dorfprediger Sidney Rigdon – mit dem Gezänke, den Stichwörtern und Lieblingsphrasen sowie mit den Zielen gewisser fanatischer Secten in Amerika bekannt war und durch Aufpfropfung dieser den Roman in ein epochemachendes Religionsbuch zu verwandeln beabsichtigte. Im Uebrigen genüge die Bemerkung, daß diese Aufpfropfung durchgehends ungeschickt vorgenommen worden ist und daß das Ganze keine Spur von historischem Sinne verräth und als Roman phantasiearm und in Folge dessen einförmig und langweilig ist. Der Wunderbombast darin wirkt oft geradezu komisch; die langen Reden und Gebete der Propheten sind inhaltslose Ketten von Redensarten, wie man sie in den amerikanischen Methodisten- und Baptisten-Meetings aneinanderfädeln und herleiern hört, und die Logik und Grammatik wird fast auf jeder Seite des Buches in haarsträubender Weise gemißhandelt. Fortdauernd begegnet man Weitschweifigkeiten und Wiederholungen, Haufig kommen Angaben vor, welche vorhergehenden widersprechen, ebenso oft arge Anachronismen; der Styl mit seinem unaufhörlichen „And it came to pass“ („Und es begab sich, daß“) ist unbeschreiblich unbeholfen und hölzern.

Dennoch gefällt das dumme Machwerk den Mormonen, und sie scheinen naiv genug gewesen zu sein, zu glauben, daß es auch allen anderen Leuten gefallen müsse. Sie haben es fast in alle Hauptsprachen Europas übersetzen lassen, auch in’s Deutsche und Russische, und hatten die Dreistigkeit, in den letzten vierziger Jahren eine Deputation abzusenden, die es dem Könige von Preußen überreichen sollte und daran nur durch die Berliner Polizei gehindert wurde.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 618. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_618.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)