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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Fritz Reuter's letzte Geschichte.
Ein Erinnerungsblatt von Max Ring.


Im April des denkwürdigen Jahres 1870 sah ich mich wegen eines nervösen Leidens gezwungen, Berlin zu verlassen, um auf Anrathen meiner Aerzte in einer besseren und reineren Luft, von allen störenden und aufregenden Einflüssen der großen Stadt entfernt, lediglich meiner Gesundheit zu leben. Nach sorgfältiger Ueberlegung und Erwägung aller Verhältnisse war meine Wahl auf Eisenach gefallen, wo ich in dem reizenden Marienthal, auf dem sogenannten „Breitergescheid“, gerade gegenüber der Wartburg, eine mir zusagende und für meine Bedürfnisse passende Wohnung fand, welche ich für mich und meine mich begleitende Familie auf mehrere Monate miethete. Bald fühlten wir uns in der neuen Umgebung heimisch und behaglich, wozu ebenso sehr die herrliche Natur wie die wirklich auserlesene Gesellschaft beitrug, mit der ein glücklicher Zufall mich zusammenführte. – Das verhältnißmäßig kleine Eisenach besaß damals eine Anzahl interessanter und bedeutender Männer, wie man sie kaum in einer großen Stadt sobald wieder zusammenfindet. Da war der liebenswürdige Mineraloge Professor Senft, der ausgezeichnete Philologe Professor Koch, einer der vorzüglichsten Sprachforscher und gelehrter Kenner des Alt-Englischen, August Becker, der gemüthvolle Dichter und Verfasser geistreicher Romane, von denen „Des Rabbis Vermächtniß“ ein wohlverdientes Aufsehen machte. In dem von Eisenach nicht weit entfernten, zwischen üppigen Wiesengründen und malerischen Bergen anmuthig gelegenen kleinen Badeort Thal wohnte unser alter Freund Emil Palleske in seiner poetischen Villa, wo er, soeben von seinen fernen Wanderungen zurückgekehrt, im Kreise seiner zahlreichen, feingebildeten Familie von der anstrengenden Thätigkeit als beliebter Vorleser ausruhte und die ihm willkommene Muße während der Sommermonate zu eingehenden literarhistorischen Studien benutzte.

Zu all diesen trefflichen einheimischen Männern kamen noch die zahlreichen Fremden, welche bald auf längere, bald auf kürzere Zeit sich in Eisenach aufhielten, darunter der geistreiche, witzige Naturforscher Professor Roth aus Berlin, der die eigenthümlichen Gebirgsformationen der Umgegend untersuchte, der durch seine physiologischen Arbeiten über die „Blutkörperchen“ vielgenannte Professor Vogel aus Halle, der regelmäßig jeden Sonntag in Eisenach erschien, um seine dortigen Freunde zu besuchen und mit ihnen als unermüdlicher Fußwanderer Berge und Thäler zu durchstreifen. Vorübergehend wurde uns noch das Vergnügen zu Theil, unseren hochverehrten Schulze-Delitzsch in unserer neuen Häuslichkeit zu begrüßen und in Thal bei Palleske mit der interessanten Dichterin Elise Schmidt und einer Tochter Rückert's einen genußreichen Abend zu verleben.

So angenehm, werthvoll und anregend auch für uns ein solcher Verkehr war, so vermißten wir noch immer schmerzlich die persönliche Bekanntschaft mit Fritz Reuter, der, wie ich hörte, damals gerade leidend war und zurückgezogen in seiner Villa lebte. Aus Furcht, ihn zu belästigen oder zudringlich zu erscheinen, unterließ ich auch später, nach seiner indeß erfolgten Genesung, ihn aufzusuchen, so begierig ich auch war, den berühmten Verfasser der von mir bewunderten Dichtungen kennen zu lernen. Fast vier Wochen waren bereits vergangen, ohne daß es mir gelungen war, Reuter zu sehen und zu sprechen, obgleich ich es meinerseits nicht daran fehle ließ, mich ihm zu nähern. Immer trat ein tückischer Zufall mir hindernd in den Weg; stets verfehlte ich ihn an den Orten, wo er gewöhnlich des Abends zu verkehren pflegte, und wenn ich ihn sicher anzutreffen hoffte, mußte ich zu meinem Verdruß hören, daß er soeben fortgegangen sei. Allerdings wäre es das Einfachste und Kürzeste gewesen, ihn in seiner Wohnung nachträglich aufzusuchen, aber eine gewisse Scheu hielt mich zurück, das Handwerk zu begrüßen und mich dem berühmten Collegen als reisenden Schriftsteller vorzustellen, noch dazu, da ich die geeignete Zeit aus den angegebenen Gründen versäumt hatte und befürchten mußte, daß er mir meine Ungeschicklichkeit übelnehmen möchte.

Mit schwerem Herzen gab ich bereits die Hoffnung auf, den verehrten Dichter zu begrüßen, als ich eines Abends mit meiner Frau nach dem „Annathal“ ging und auf dem Rückwege in die sogenannte „Phantasie“, eine beliebte und von allen Eisenachern viel besuchte Restauration, trat, um ein Glas des köstlichen Bieres zu trinken. In unserer Nähe saß zwischen mehreren uns bekannten Herren ein ältlicher Mann, den ich – nach seiner gedrungenen Gestalt und seinem breiten, gerötheten Gesichte mit dem grauen Barte zu urtheilen – für einen Oekonomen aus der Umgegend oder für einen pensionirten Hauptmann hielt, bis mich der ebenfalls anwesende August Becker aus meinem Irrthume riß, indem er mich aufforderte, ihm zu dem gemeinschaftlichen Tische zu folgen, an dem ich in dem vermeintlichen Landwirthe bald zu meinem größten Vergnügen – Fritz Reuter kennen lernte.

Mit gutmüthigem Lachen nahm er meine Entschuldigung an, worauf er mich und meine Frau ebenso herzlich wie dringend einlud, ihn sobald wie möglich zu besuchen und unsern Fehler schleunigst gut zu machen, was wir uns nicht zweimal sagen ließen. Um uns zu zeigen, daß er nichts weniger als übelnehmisch sei, erwiderte er unsern Besuch in kürzester Frist, begleitet von seiner ebenso reizenden wie liebenswürdigen Frau, und zwar in aller Form, sogar in dem ihm verhaßten schwarzen Leibrocke, den er nur mit Widerstreben bei besonderen Gelegenheiten zu tragen pflegte, wie er zu meiner Beschämung im Laufe der Unterhaltung ironisch schmunzelnd bemerkte. Seitdem sah ich Reuter wiederholt, bald in seiner Villa, in die er auch meine Kinder, „die goldenen Ringelein“, wie er sie scherzend nannte, zur Plünderung seiner Stachel- und Erdbeeren einlud, bald am dritten Orte, auf gemeinsamen Spaziergängen nach der Wartburg und der Phantasie, wobei ich in kurzer Zeit den Menschen in Reuter ebenso achten und lieben lernte, wie ich ihn als originellen, unerreichbaren Schriftsteller, als den ersten deutschen Humoristen der Gegenwart bereits schätzte.

Wenn auch Reuter das Bewußtsein seines vollen Werthes und seiner hohen Bedeutung in sich trug, so war er keineswegs so eitel und von sich eingenommen, um, wie viele Dichter, Alles gut zu finden, was er geschrieben. Mit wirklich rührender Bescheidenheit sprach er mit mir von seinen letzten Arbeiten, besonders von der „Reise nach Constantinopel“ und von dem geringen Erfolg des von dem Publicum und der Kritik abfällig behandelten Buches, worüber er jedoch höchst empfindlich schien. Zugleich klagte er wehmüthig über die Abnahme seiner geistige Schöpferkraft, über seine zunehmende Altersschwäche, indem er hinzufügte, daß er schwerlich noch etwas Lesenswerthes schreiben werde. Meine Frau und auch ich bemühten uns, diese Anwandelungen einer hypochondrischen Verstimmung und einer gerade bei den bedeutendsten Schriftstellern sich öfters zeigenden Muthlosigkeit zu bekämpfen und die Zweifel an seiner Productionskraft zu widerlegen. Sichtlich von unserem Zureden erfreut, theilte er uns den Plan zu einer neue Erzählung mit, welche er schon lange Zeit mit sich im Kopfe herumgetragen, aber aus den angegebenen Gründen nicht ausgeführt hatte.

Wenn es mir auch unmöglich ist, den naiven Zauber, womit Reuter seine Geschichte uns vortrug, hier wiederzugeben, und wenn nach so vielen Jahren mir auch so manche reizende Einzelheiten aus dem Gedächtnisse geschwunden sind, so will ich doch versuchen, den, wie ich wohl annehmen darf, unbekannt gebliebenen Plan zu Reuter's letzter Erzählung aus der Erinnerung zu veröffentlichen, da sich schwerlich auch nur ein Bruchstück desselben in seinen hinterlassenen Papieren vorgefunden hat.

Der Held dieser echt Reuter'schen Erzählung war ein gutmüthiger, ehrlicher, sechszehnjähriger Bauernsohn aus Mecklenburg, der nach langem Drängen und Bitten von seinen Eltern die Erlaubniß bekommt, nach Berlin, dem Ideal aller seiner Wünsche und Träume, zu reisen, um seine daselbst wohnenden Verwandten zu besuchen. Mit den nöthigen Warnungen vor den hauptstädtischen Schwindlern und den Verlockungen der Residenz versehen, in der Tasche mehrere Thaler Reisegeld, in der einen Hand ein Packet mit seinem besten Sonntagsstaat, in der andern einen Sack mit Schinken, Würsten und einer fetten Gans zum Geschenk für die „liebe Muhme“ fährt der gute Hann Jochen auf der Eisenbahn nach Berlin. Ungefragt erzählt er seinen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 619. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_619.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)