Seite:Die Gartenlaube (1877) 686.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Allerorten in Rußland und Sibirien[1] hatten wir bisher eine Aufnahme gefunden, welche uns ebenso überraschen wie beglücken mußte. Die zuvorkommende Liebenswürdigkeit und dem Herzen entstammende Gastlichkeit der Russen hatte uns die beschwerliche Reise in jeder Beziehung erleichtert. Wir waren mit schwerwiegenden Empfehlungen nach Rußland gekommen, aber auch von denen, welche die Bedeutung dieser Empfehlungen nicht zu würdigen wußten, in freundlichster Weise aufgenommen, bewirthet, unterwiesen und belehrt worden. Jedermann ohne Unterschied bestrebte sich, uns gefällig zu sein. Es war, als ob sich der Geringe wie der Vornehme bemühen müsse, uns zu zeigen, daß das Rußland von heute ein anderes sei, als es vor zwanzig, vielleicht vor zehn Jahren gewesen. Man hätte dieses Mühen sich sparen können: wir sahen selbst, welche ungeheuren Fortschritte nach jeder Richtung hin gewonnen worden waren und fortdauernd erstrebt werden. Aber es berührte mich angenehm, dieses allgemeine Bemühen wahrzunehmen, weil es die warme Vaterlandsliebe aller Russen und ihr ernstes Ringen nach der Bildungsstufe westeuropäischer Völker in unverkennbarer Weise darlegte. Wer unbefangen urtheilen will, wird zu ähnlichen Anschauungen gelangen, wenn er Rußland bereist.

Auch in Semipalatinsk empfing man uns mit derselben Freundlichkeit wie überall. Wir waren solchen Empfanges bereits gewohnt und in Folge dessen verwöhnt worden, sollten jedoch erfahren, daß alles bisher Erfahrene noch überboten werden könne. Kein Geringerer als der Gouverneur selbst, General von Poltorasky, übte hier die Gastfreundschaft gegen uns. Wir hatten bereits mancherlei von ihm vernommen. Man hatte ihn uns als kenntnißreichen Mann und trefflichen Gesellschafter gerühmt, und man hatte nicht zu viel, eher zu wenig gesagt. Was man uns aber nicht, mindestens nicht deutlich genug gesagt hatte, war, daß er eine ihm in jeder Beziehung ebenbürtige Gemahlin besaß, eine Frau, welche, selbst Künstlerin und Schriftstellerin, jeder ernsteren Bestrebung Theilnahme widmete und sie nach Kräften, unterstützte.

Beide wetteiferten, uns die Tage, welche wir in Semipalatinsk verlebten, zu lehr- und genußreichen zu gestalten. Was die einsame Stadt bieten konnte, wurde uns geboten, Menschen und Thiere uns zur Verfügung gestellt. Doch damit war weder der General noch seine Gemahlin zufrieden. In der Seele des Ersteren reifte der Entschluß, uns noch weit mehr zu zeigen, als die Stadt selbst aufweisen konnte. Wie groß der Antheil war, welchen die Frau Generalin an gedachtem Entschlusse hatte, will ich dahin gestellt sein lassen, so bestimmt ich auch der Meinung mich zuneige, daß wir ihr wenigstens den Keim dazu Verdankten. Der General erinnerte sich, von seinen Untergebenen, den Kirgisen, zu einer Jagd auf Archare, riesige Wildschafe, eingeladen worden zu sein, und beschloß jetzt, dieser Einladung Folge zu geben. Das Jagdgebiet, die Arkâtberge, war freilich hundertundsechszig Werst, etwas mehr als ebenso viel Kilometer, von Semipalatinsk entfernt, was aber fragt man in Sibirien nach solcher Strecke? Man feiert den Geburtstag eines Freundes, obwohl man, um zu ihm zu gelangen, das Doppelte durchreisen muß; man kommt zu Hochzeit und Taufe, und wenn man dreimal so weit zu fahren hätte. Die Jagd wurde beschlossen und alles Erforderliche sofort vorbereitet.

Ein Kreishauptmann mit den unvermeidlichen Kosaken reiste voraus, um den Kirgisenhäuptlingen, Gemeindevorstehern und Sultanen den Besuch des Gouverneurs anzusagen; andere Beamte folgten. Zwei Tage später verließ die Frau Generalin in Begleitung ihrer liebenswürdigen Tochter und einiger befreundeter Familien die Stadt, hoch auf dem Tarantass, dem hier üblichen Reisewagen thronend, um uns in der Einöde die Wirthin nicht vermissen zu lassen; Tags darauf beschlossen wir den Reisezug, welcher drei Tage nach einander sämmtliche Postpferde der Straße nach Taschkent in Bewegung gesetzt hatte.

Am jenseitigen Ufer des Irtisch betraten wir die Kirgisensteppe. Es war am 3. Mai; der Frühling hatte wenige Tage vorher seinen Einzug gehalten, sein erster Hauch das junge Grün eben erst allüberall wachgerufen. Mit ihm waren die Zugvögel zurückgekehrt, welche der Winter vertrieben und bis vor kurzem in der Fremde zurückgehalten hatte. In der klaren Luft, wie an unsichtbaren Fädchen gehalten, hingen Röthel- und Rothfußfalken, die liebenswerthesten Kleinräuber der Steppe; zwischen den sprossenden Halmen liefen Steppenkiebitze umher; von den Ebenen stiegen kohlschwarze Tatarenlerchen in Gemeinschaft unserer Feldlerche und zweier Verwandten zum Himmel auf; an den Bergesgehängen sahen wir Alpenlerchen; in den frischgrünen, feuchten Thälern weideten kleine, zierliche, fuchsrothe Gänse; auf und an den Seen tummelten sich Enten, Limosen, Stelzen; über Berg und Thal glitten wiegenden Fluges Weihen dahin; hier und da zog ein Steppenbussard, in der Nähe des Irtisch auch ein und der andere Fischadler seine Kreise.

Ueber weite Ebenen und vielverzweigte Hügel durch Thäler und Kessel führte unser Weg. Hatten wir eine Hügelkette überstiegen, so lag ein breites Thal, erst ringsum durch Hügel abgeschlossener Kessel, mit mehr oder minder ausgedehntem See, vor unseren Augen; hatten wir ihn durchschritten, so erhoben sich wiederum Hügel und Berge vor uns. Nach je zwanzig, dreißig und mehr Werst hielten wir vor einem einsamen Posthause, um die Pferde zu wechseln und einige Mundbissen zu nehmen; dann ging es wieder weiter und so immer weiter durch die wechselreiche, der beständigen Wiederholung höchst ähnlicher Landschaftsbilder halber jedoch eintönig erscheinende Steppe.

Erst gegen Abend, nach zwölfstündiger Fahrt etwa, stiegen die Arkâtberge vor uns auf. Die Steppe, in welcher das Auge den Maßstab zutreffender Schätzung verliert, täuschte uns die Berge als hohe Gebirge vor. Scharf abfallende Grate, jäh aufstrebende Felsenmassen, Kegel, Spitzen, Zacken, riesige, wie der Knauf einer Säule auf dem Schafte ruhende Platten, auf schwächerem Untergestell, tief eingeschnittene Thäler zwischen den Bergen, Abgründe und Abstürze, baumlose Matten am Fuße der unbewaldeten, selbst unbebuschten Höhen, welche vom blauen Dufte der Ferne geschmückt und verschleiert waren und von den weißen Schäfchenwolken am Himmel darüber noch besondere Zierde empfangen hatten: so lagen sie vor uns, die höchstens fünfhundert Meter über die Ebene sich erhebenden Arkâtberge. Eine Stunde später hatten wir das nach ihnen benannte Posthaus erreicht. Kosaken, welche unser geharrt, sprengten seitwärts vom Wege in die Steppe hinaus; andere geleiteten unsere fünf Wagen in derselben Richtung auf dem pfadlosen Wege und in der inzwischen hereingebrochenen Nacht. Würzige Pflanzendüfte und milde Frühlingsluft umschmeichelten, auffallende, im schwach nur dämmernden Dunkel riesenhaft erscheinende Bergformen erregten unsere Sinne. Schattenhafte Gestalten bewegten sich gegen uns; rasch sich folgende Hufschläge, fremdartige Laute trafen unser Ohr: uns entgegengerittene Kirgisen umgaben die Wagen, tauschten freundliche Grüße mit dem General, bedeuteten die Kutscher und geleiteten uns zu dem in der Einöde für uns errichteten Aul (sprich „A – ul“) oder Jurtenlager. „Willkommen in der Wüste!“ rief uns die Generalin entgegen; willkommen hießen uns Russen und Kirgisen. Wir hatten das Ziel unserer Fahrt erreicht und wurden freudig überrascht durch die Nachricht, daß bereits einer der kirgisischen Jäger einen Archarbock erlegt habe.

Was die Nacht verschleierte, ließ der kommende Morgen uns schauen. Wir befanden uns auf einer weiten, hügeligen, ringsum von Bergen umschlossenen Hochebene. Nach Norden hin schloß dieselbe Bergkette, welche wir gestern während der Fahrt gesehen hatten, den Gesichtskreis ab; im Westen, Südwesten und Südosten erhoben sich ähnlich gestaltete, jedoch niedrigere Granitfelsen; nach Osten hin vervollständigten niedrige Hügel den felsigen Ring. In der Nähe eines tropfenweise rinnenden Wässerchens, welches hier und da versumpfte Lachen bildete, standen die Jurten, sieben an der Zahl, in fast gerader Reihe. Fünf von ihnen gaben dem General und seiner Familie, uns und dem übrigen Gefolge Herberge; eine diente als Empfangs- und Versammlungsraum, eine als Küche. Die zu Wohnungen bestimmten waren außen und innen zierlich und festlich geschmückt,

  1. Die Leser der „Gartenlaube“ sind über Zwecke und Ziele der „deutschen Forschungsreise nach Westsibirien“ bereits unterrichtet worden. Sie wissen, daß es die Bremer „Gesellschaft für Nordpolforschung“ war, welche uns, die Mitglieder der Forschungsreise, ausrüstete und aussandte; es bedarf daher meinerseits keines Vorwortes bezüglich der Reise selbst. Nur das Eine will ich noch bemerken, daß die Gesellschaft für Nordpolforschung inzwischen sich in eine „Geographische Gesellschaft“ umgewandelt, also erweitert hat und ihr reges Streben unter Anderem auch durch Herausgabe einer von Lindeman geleiteten trefflichen Zeitschrift bethätigt, welcher ich allgemeinere Aufmerksamkeit zuwenden möchte.
    D. Verf.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 686. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_686.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)