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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Als Localkundigen blieb es meinem Vater vorbehalten, für das häusliche Unterkommen des jungen Schlesiers zu sorgen. Bald war ein solches aufgefunden, und als der Breslauer Geschäftsfreund sich zur Rückreise nach der Heimath rüstete, bezog mein zukünftiger Schulcollege ein freundlich gelegenes, aber bescheiden schmales Stübchen im dritten Stockwerk eines im damaligen Bose’schen Garten befindlichen Hintergebäudes. Hier, beim Schuldirector H., einem in der Stadt bekannten Pädagogen, sollte ihm Familienverpflegung zu Theil werden.

Da Lassal während der kurzen Zeit seiner Anwesenheit in Leipzig außer einigen flüchtigen Theaterbekanntschaften nur bei meiner Familie Zutritt hatte, so blieb er auf meinen gesellschaftlichen Umgang angewiesen. Ich selbst aber fühlte mich durch sein übermüthig sprudelndes und geistig ungemein anregendes Wesen so zu ihm hingezogen, daß ich ihm meine freie Zeit ungeschmälert und gern widmete. Mein Freund beschäftigte sich, auch wenn ich zugegen war, stark mit Lectüre des Alterthums und las dann stundenlang und mit Pathos vor. Bald staunte ich, wie er, einem docirenden Lehrer gleich, die Classiker Griechenlands und Roms kannte, auch seine linguistischen Fertigkeiten in todten und modernen Sprachen fand ich Gelegenheit zu bewundern. Schon während der ersten Tage in seinem neuen Heim, als die kleine Handbibliothek aufgestellt war, machte er mich vertraulich mit seinem Lieblingspoeten, Heinrich Heine, bekannt, dessen Schriften ich bis dahin nur dem Namen nach kannte. Beim Dämmerscheine der primitiven Oellampe declamirte er mit dem Vollaufgebote jugendlicher Leidenschaft die hervorragendsten Gedichte aus dem „Buch der Lieder“, und ich gestehe, daß er mit diesen wahrscheinlich ersten rhetorischen Versuchen einen nachhaltig gewaltigen Eindruck auf mich, den in beschränkt kleinbürgerlicher Anschauung Heranwachsenden, ausübte.

Schon in diesen ersten Tagen des Zusammenseins mit Lassal nahm ich an ihm eine zügellose Neigung zur Poesie wahr, und wenn ich später beim Eintritt in sein Zimmer ihn nicht beim Studium Heine’scher oder altclassischer Schriften fand, dann traf ich ihn sicherlich der Dichtkunst die eigenen Tribute in gehobener Stimmung darbringend an.

Es ist meine feste Ueberzeugung, daß von dem Moment ab, da der junge Lassal das väterliche Haus verließ, ein ungeheurer Gährungsproceß in diesem gewaltig angelegten Geiste vor sich ging; war ich doch an der Periode eines zweieinhalbjährigen Umgangs Zeuge jener inneren Kämpfe, welche ihn zeitweilig an seiner Zukunft gänzlich verzweifeln ließen. Wir hatten Beide Ursache, über die Anfänge eines verfehlten Lebensberufes zu klagen, aber meines Freundes Individualität war dazu angelegt, jedes sich ihm entgegenstellende Hinderniß durch gewaltthätige Opposition über kurz oder lang zu beseitigen.

Das Trachten Lassal’s, schon von Jugend auf sich volle Unabhängigkeit zu schaffen, entsprang zunächst wohl dem Bewußtsein, dereinst Erbe eines beträchtlichen Vermögens zu werden, welches er mit nur einer Schwester zu theilen hatte. Kindliche Pietät wurde für ihn Ursache, die Leipziger Schule zu besuchen – ein Joch, dem sich sein nach selbstständigem Schaffen mächtig ringender Geist voraussichtlich auf die Dauer nicht zu beugen vermochte. Sehr bald nach der Abreise des Vaters brach denn auch die Sturm- und Drangperiode bei ihm hervor. Der Gedanke, Kaufmann, das heißt: Seidenhändler werden zu müssen, regte ihn bis zur Raserei auf; unzählige Male mußte ich Ausdrücke verletzter Eitelkeit und die Versicherung von ihm entgegennehmen, daß er fühle, zu etwas Besserem geboren zu sein. In solchen Momenten betheuerte er mir dann seine Mission – wie sie ihm damals vorschwebte – dem deutschen Volke ein echter, aber demokratischer Dichter zu werden. Sein höchster Wunsch war, an der Seite Heine’s im Paris leben und schaffen zu können. Unstreitig sind es eben die Jahre von bis 1839 bis 1841, in welch’ letzterem er die Leipziger Handelsschule mit der Breslauer und Berliner Universität vertauschte, wo der Anfang des Klärungsprocesses des vermeintlichen Dichters in spe zum künftigen Agitator sich vollzog.

Unser gemeinsamer Lehrer der deutschen Sprache hatte als eines der zu bearbeitenden Themata die Lösung der Aufgabe gestellt: „Wer ist unser Freund?“ Nachdem wir die Frage niedergeschrieben hatten, meldete sich Lassal zum Worte und ersuchte, sichtbar aufgeregt, um die Erlaubniß, commentirend zum erhaltenen Pensum sprechen zu dürfen. Mit wahrhaft zündenden Worten entspann sich nun eine Disputation, wie sie zwischen Lehrer und Schüler wohl nie zuvor stattgefunden haben dürfte, indem Ferdinand mit einer die Classe hinreißenden Beredsamkeit den Nachweis führte, daß eine solche Frage im Wege des Denkens überhaupt nicht zu lösen, vielmehr lediglich eine Gefühlssache sei. „Jeder Versuch,“ rief er, zu mir gewendet, „den Begriff Freundschaft logisch zu lösen, ist ein Unsinn, und ein solches Verlangen, ernstlich gestellt, kann nur dem Gehirne eines Schwachkopfes oder dem eines froschkalten Methodikers entspringen, welcher des Gefühles der Freundschaft unfähig ist.“ Gleichzeitig erklärte er diese Aufgabe nicht lösen zu können, es sei denn, daß er Schiller’s Ballade „Die Bürgschaft“ in Abschrift bringe. Alle Mitschüler sahen einander verdutzt an. Der beleidigte Lehrer, in der richtigen Erkenntniß, daß ihm diesem Eleven gegenüber die eigene Autorität keine Satisfaction schaffen werde, erhob bei höherer Instanz Klage, und der Attentäter mußte vor dem Director erscheinen. Dort wurde ihm der gemessene Befehl, die angefochtene Aufgabe zu lösen. Ein glühend poetischer Erguß, der in meiner Gegenwart entstand und mit den Worten begann:

„Nicht wägen mit der Wage in der Hand
Läßt sich der Freundschaft golden hehres Band –“

war die Form, in welcher mein Freund sein Opus zur Censur abgehen ließ und von dort zerrissen zurück empfing. Director Schiebe, ein abgesagter Feind von jeder dem commerciellen Wissen fernliegenden Schöngeisterei, nahm die schriftlich fortgesetzte Herausforderung seines widersetzlichen Schülers ungnädig auf, doch wurde die Differenz durch besonnenes Dazwischentreten Dritter endlich beigelegt.

Aehnliche Streitscenen wiederholten sich für die Folge öfter; sie dienten dazu, daß der Breslauer Brausekopf in Händel verwickelt wurde, zu deren Beilegung er sich dann meiner, des Ruhigen, Vermittelung bediente. Ein Doppelgänger Lassal’s, ein Landsberger von jüdisch-polnischer Abstammung, der sich in unserer Classe befand und ihm äußerlich, doch nur carrikirt ähnelte, litt unter den raffinirten Launen meines Freundes ganz besonders viel. Zudem hatte jenen der Zufall auf dieselbe Bank wie Lassal, ja unmittelbar an dessen Seite gebracht. –

Bei der leichten Erregbarkeit der Jugend war es unvermeidlich, daß wir zeitweilig Gegner wurden, und ich mußte energisch gegen meines Freundes Herrschsuchtsgelüste ankämpfen. Und gerade in Folge dieser Schwäche bot er mir Gelegenheit, mich über ihn als demokratischen Poeten lustig zu machen, insbesondere dann, wenn er über die Summe des Charakters und der Bildung des deutschen Volkes wegwerfend und mit einer Exclusivität urtheilte, die man sonst nur unter hoher Aristokratie zu finden gewöhnt ist. Mein Freund Ferdinand hielt schon damals an der humanistisch bedenklichen Idee fest, daß die große Masse der Bevölkerung für die Erziehung zu höherer Cultur unfähig sei.

In dem ersten Jahr verging kein Tag, daß nicht außerhalb der Schule ein Austausch unserer Meinungen oder ein Gespräch über zum Theil hochfahrende Pläne stattgefunden hätte. Er begann einige Werke französischer Nationalökonomen zu studiren, welche die Bibliothek unserer Lehranstalt zufällig enthielt, und ich bemerkte bald an ihm die Wirkung dieser im Geheimen fortgesetzten Lectüre. Speciell wandte er jenen volkswirthschaftlichen Capiteln verschärfte Aufmerksamkeit zu, welche die Bestrebungen der St. Simonisten behandelten, aber ich glaubte damals, bei der Vielseitigkeit seiner Lernbegierde, seinen begeisterten Betrachtungen keine Bedeutung beilegen zu sollen. Erst später fiel mir ein, daß diese Studien zu einer Zeit stattfanden, da Lassal schon den Entschluß in sich trug, die Handelsschule und Leipzig vor Vollendung des dreijährigen Cursus zu verlassen. Mein Freund stellte, von der geistreichen Behandlung des Stoffes durch den fremden Autor angeregt, die praktische Möglichkeit einer Arbeiterfrage auf, ein sociales Thema, welches in Frankreich schon seit der Revolution den Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gebildet hatte. Er[WS 1] warf mir seine eigensten Ideen im genialen Umrissen hin; ich erinnere mich sehr genau, daß sie zum Theil in strictem Widerspruch mit den Doctrinen standen, welche er als die „einzig richtigen“ ein Decennium später öffentlich verkündete. Auf solchen der französischen Revolution entsprungenen Anschauungen entwickelte Lassal schon

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 689. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_689.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)