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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


nahte. Abgesessene Reiter bahnten rücksichtslos eine breite Gasse zwischen den Tafeln über den Schloßhof. „Platz für die Herzogin von Burgund!“ rief es, und rechts und links flog auf die Seite, was im Wege stand. Beim Scheine der Pechfackeln sah man die Herzogin vom Zelter steigen. Ein hochgewachsener junger Mann war vor ihr abgesprungen und hob sie aus dem Sattel. Sie schritt mit ihrem Gefolge geradeswegs auf die Halle zu. Ein weiterer Trupp Bewaffneter schloß den Zug. – Neugierig, aber schweigend gaffte das Volk. Noch schien Niemand etwas Auffallendes in dem Ereigniß zu finden; war doch die Herzogin anscheinend wiedergekommen, wie sie ausgeritten war. Nur Nikol's Auge bohrte sich immer stierer in die nahende Gruppe. Die Worte des Fiedlers, die Art wie die Bewaffneten mit dem Volke umsprangen, das hatte seinen Argwohn, die hohe Gestalt des jungen Ritters, soweit sie erkennbar, aber seine Aufmerksamkeit erregt.

„Hollah. was ist das?“ rief er plötzlich, als die bahnbrechenden Reiter näher vorgedrungen waren, und mit glühenden Augen streckte er sich vor wie zum Sprunge.

„Die Cleve'schen werden grob,“ meinte ein Anderer.

„Das sind im Leben keine Cleve'schen,“ rief ein Dritter.

„Seht doch die Helme, seht doch die Farben!“ entgegnete Jener.

„Platz für die Herzogin von Burgund!“ erscholl es jetzt dicht vor der Halle, und vor den wuchtigen flachen Hieben nach beiden Seiten zurückprallend, drängten und preßten sich Arbeiter und Pöbel so dicht zusammen, daß selbst Nikol, unfähig ein Glied zu rühren, sich in ihrer Mitte wie eingemauert fand. Eine breite Gasse von Spalier bildenden Bewaffneten hielt den Zugang in die Halle offen. Die Abgeordneten aber ordneten sich, ihre Sessel zurückschiebend, um die Herzogin in corpore zu begrüßen. Von dem hochgewachsenen jungen Ritter an der Hand geführt, betrat Maria den Säulengang. Ihr wirres Haar unter dem spitzen Hut und ihre gerötheten Wangen deuteten auf einen ungewöhnlich scharfen Ritt, ihre unruhigen Blicke auf eine tiefe innere Erregung. Vor der Halle hielt ihr Begleiter an und überflog mit einem stolzen, forschenden Blicke das Innere des Raumes, doch schien er nicht zu finden, was er suchte, denn er wandte sein Haupt gebieterisch rückwärts und rief mit befehlender Stimme einem älteren Ritter zu:

„Der Herzog ist nicht zugegen. Lasset alle Stadtthore besetzen!“

„Es geschieht soeben, Herr,“ war die Antwort.

„Sperret die Einfahrt zum Schloßhof! Niemand kommt von hinnen. Wer Widerstand leistet, wird niedergemacht. Ihr selbst mit hundert Hakenschützen suchet den Herzog!“

Der alte Ritter eilte durch die Reihe der Bedeckung zurück, und jetzt erst gewahrte man, daß hinter dieser noch ein langer Zug in Grau Gekleideter und mit Luntenflinten Bewaffneter folgte; sie trugen Filzkappen mit grünen Zweigen; eine Hälfte dieser Kriegsleute nahm der Ritter mit sich.

Es war kein Zweifel mehr. Nikol ging ein schreckliches Licht auf – sein Königstraum war in Gefahr; ein plötzlicher Wechsel, ein Ereigniß war eingetreten.

„Verrath! Ueberfall! Kronenraub!“ brach er plötzlich mit Donnerstimme los, die noch erhobene Eisenstange hoch über sich in der Luft schwenkend. „Brecht Bahn, läutet Sturm! Schlagt sie nieder! Hoch der König von Burgund! Hoch Cleve!“ Und „Hoch Cleve!“ scholl es ihm aus hundert Kehlen, vereinzelt oder in Gruppen, wie seine Rotte unter dem Arbeitervolk stand, in dröhnenden Rufen nach, und mit gewaltsamer Anstrengung der Arme hoben sich Knittel und Spieße über der Menge hervor, während ihre Träger[WS 1] sich von drei Seiten zu dem Führer durcharbeiteten, der an der Spitze eines Trupps, wie ein Rasender Alles vor sich niederstoßend, geradeswegs auf den „Kronenräuber“ durchzubrechen strebte.

Das war der Augenblick, welchen Maximilian für Maria gefürchtet, als er sie noch beim Absteigen vom Zelter dringend gebeten hatte, sich mit dem Hoffräulein in ihre Zimmer zurückzuziehen und abzuwarten, bis er mit Cleve in der Halle abgerechnet haben würde. Aber sie war nicht zu bewegen gewesen, den Geliebten allein der Gefahr zu überlassen. Dieses kindlich-schreckhafte Gemüth konnte sehr wohl wirklichen Muthes, nicht bloßer Anwandlung dazu, fähig sein, wenn ... ihr Herz dabei in Frage kam, und sie hatte ein richtiges Urtheil über sich ausgesprochen, als sie ihm geantwortet: an seiner Seite werde sie die wirkliche Tochter ihres Vaters, ja, werde seine Beschützerin werden. Denn allerdings konnte nur ihre Gegenwart und ihre Vollmacht allein dem Prinzen das Recht, für sie zu handeln, und damit einen gewissen Schutz für ihn selbst verleihen. Daß Cleve die Abgeordneten in der Halle um sich versammelt habe, war ihnen bekannt geworden, als sie, nach dem tollen Ritt durch das Brüsseler Thor sprengend und die den Plätzen der Stadt zuwogenden Menschenmassen erblickend, unter Hugo's Führung auf Seitenstraßen dem Schlosse zugeeilt, zuletzt aber dennoch genöthigt waren, sich den Weg durch die Menge zu bahnen. Ihr ganzes Heil hatten sie nach kurzer Besprechung auf dieser Strecke in überraschendem Auftreten in der Versammlung erkannt, aber selbst wenn es Maximilian gelingen sollte, mit seiner Geleitsmacht sich Cleve's zu versichern, so ließ sich doch bei den Abgeordneten nur von der Autorität der Herzogin selbst auf Entgegenkommen hoffen.

Unter solchen Umständen war es Maria's liebendem Herzen unmöglich erschienen, Maximilian zu verlassen, zumal das für sie Schrecklichste, ein Zusammenstoß mit feindlichen Pöbelmassen im Schloßhofe selbst, gar nicht in Frage stand. Jetzt aber war Alles anders gekommen. Anstatt dem Herzog von Cleve sah sie sich dem wuthentbrannten Pöbel gegenüber. Hier war ihre Autorität gleich Null. Hugonet's und Imbercourt's blutige Häupter schwebten vor ihren Augen; Nikol's furchtbarer Drohruf erschütterte alle ihre Nerven – sie zitterte wie Espenlaub.

Wenn dagegen irgend etwas im Stande gewesen wäre, Maximilian's Kampfbegierde auf den Höhepunkt zu treiben, so war es dieser Anblick. Die jugendliche Braut, die rechtmäßige Herrin dieses Landes, bedroht vom Pöbel, mißachtet in ihrer Hauptstadt an seiner Seite zu sehen, war zu viel für ihn. Das Blut schoß ihm in den Kopf, sein Auge sprühte. Ohne eine Secunde zu verlieren, schob er sie rückwärts in die Halle, rief Hugo zu: „Schützt Eure Herrin, Ritter!“ zog sein Schwert und stürzte sich mit dem Ruf: „Hie Maria von Burgund!“ Nikol's Rotte entgegen.

Aber wunderbar – kaum hatte er sich in dem wüsten Durcheinander, das entstanden war, bis auf Schwerteslänge den Weg zu ihm gebahnt, als der Riese, die Eisenstange fallen lassend und mit den Armen in der Luft herum fuchtelnd, vor seinen Augen plötzlich lautlos zusammenbrach. Ein allgemeiner Aufschrei folgte. Die Pöbelhaufen blieben, wie versteinert von dem Anblick, mit weit aufgerissenen Augen und noch erhobenen Waffen festgebannt an der Stelle, wie Jeder stand – ihr Häuptling, ihre Seele war gefallen; was sollten sie beginnen? Sein Loos theilen? Und was für ein Loos? Welche unsichtbare Hand hatte ihm den Tod gebracht? War ein Blitz vom Himmel gefahren? Denn von den Bewaffneten der Herzogin – das stand fest – war noch Niemand mit ihm handgemein geworden.

Die gleiche Frage that sich auch Maximilian, als er sich so plötzlich der unwürdigen Aufgabe überhoben sah, seine Hand mit dem Blut des Volks zu beflecken. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

„Ecco Signor mio!“ meldete Junker Fürwittig, der, neben ihm auftauchend, eine klafterlange Eisenstange mit rothem Maßzeichen daran mühsam niederwarf. „Hier lege ich Euch das Schwert des grimmigen Riesen zu Füßen. Es muß wohl ein Schneider gewesen sein, wie Ihr seht.“

„Du, Fürwittig?“ rief erstaunt Maximilian. „Du selbst hättest –“

„Con permesso, mi Principe! Da Ihr mich immer noch auf die Sporen vertröstetet, so habe ich mir einstweilen das Maß dazu genommen. Schmächtig wie ich bin, konnte ich mich zu dem groben Gesellen durchwinden und habe ihn todtgestochen. Es war kein Kunststück.“

„Heia!“ jubelte jetzt zur nicht minderen Ueberraschung Maximilians die gellende Stimme seines alten Freundes, des Fiedlers, vom Tische her durch die Menge – und zwei schrille Geigenstriche begleiteten sie über den Platz hinweg. „Heia, Bürger von Gent, der lange Schreihals hat das Zeitliche gesegnet. Der Clever hat das Weite gesucht. Der Sohn des Weißkönigs mit den Fünfzigtausend ist da, und der spaßt nicht. Füget euch drein, sage ich, und folget wieder eurer rechtmäßigen Herzogin! Sonst könntet ihr für euren Durst faßweise zu trinken bekommen, aber Blut statt Wein, und: 'aus wär' der Schmaus'.“

  1. Vorlage: Täger
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 734. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_734.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)