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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Einer Frühverstorbenen.

Adele Grantzow.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Als das vornehmste Gesetz der Tanzkunst, als ihre höchste Aufgabe und ihr letztes Ziel hat man von je her, so weit es sich um ästhetische Standpunkte handelt, das schöne Ebenmaß in der Bewegung eines schönen Körpers und zwar in dem Sinne gefordert, daß die ganze Gestalt zur ausdrucksvollen Darstellung eines Gefühls, eines Gedankens werde. Der Vollendung dieser höchsten Aufgabe dürfte in der Gegenwart kaum eine Künstlerin von Terpsichore’s Gnaden so nahe gekommen sein, wie die am 7. Juni dieses Jahres zu Berlin verstorbene Adele Grantzow; denn nicht vorzugsweise die Virtuosität des Fußes war es, die das bewundernde Staunen der Menge hervorrief, wenn Adele auf den Brettern erschien, es war vielmehr die bezaubernde Gesammtheit ihrer körperlichen und geistigen Vorzüge, welche sie auf die höchste Staffel ihrer Kunst hob.

Wenn wir auf die im Verlauf der letzten fünfzig Jahre in der Balletwelt erschienenen Größen zurückblicken, auf eine Fanny Elsler, eine Grisi, eine Cerito, eine Rosati, eine Marie Taglioni etc. – ihnen allen stellen wir Adele Grantzow ebenbürtig an die Seite. Ihre ganz ausnahmsweise und specielle Begabung trat uns in ihrer stummen und doch so überzeugenden Sprache der Mimik, in der ungezwungenen Schönheit ihres Geberdenspiels mit unwiderstehlichem Zauber entgegen. Sie begnügte sich nie damit ein Gefühl nur anzudeuten; sie besaß – wir möchten behaupten – selbst unbewußt, das Geheimniß, die Bedeutung der Situation immer vollständig wahr und doch graziös zu gestalten.

Die Darstellung ihrer „Gisela“ in dem gespenstischen Poem: „Die Willys“ – um nur ein Beispiel anzuführen – mit der sie ein Meister- und Musterbild tragisch-überwältigend zur Geltung brachte, gehört wohl zu dem Erhabensten, was die ernste Tanzkunst jemals hervorgebracht hat. In dieser Rolle ist unsere Künstlerin von keiner ihrer zahlreichen Rivalinnen, weder in der Mimik, aus der uns Gisela’s ganzes Seelenleben entgegenblickte, noch in den geisterhaft durcheinander wogenden und wirbelnden Tänzen der Willys erreicht worden In den künstlerischen Leistungen Adelens schwand das, was man „körperliche Mechanik“ nennt, vor dem Geiste, der die schönen Formen gewissermaßen elektrisch glänzend durchzittern. Die wechselnde Plastik unserer Künstlerin erinnerte in jeder Bewegung und Stellung an classische Vorbilder der Sculptur und an die reizenden Gestalten pompejanischer schwebender Wandgemälde.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 789. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_789.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)