Seite:Die Gartenlaube (1877) 802.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


wenn sie stürbe!“ dachte er, und er fühlte, wie bei diesem Gedanken eine bange, herzbeklemmende Angst sich seiner bemächtigte. Hanna, welche plötzlich aufblickte und die Sorge in seinem Gesichte lesen mochte, lächelte und schüttelte den Kopf.

„Mir fehlt gar nichts,“ antwortete sie auf seine stumme Frage, „ich fühle mich in der That ganz wohl. Ich habe nie sehr kräftig ausgesehen, und bin doch noch niemals in meinem Leben ernstlich krank gewesen.“

„Ihr Aussehen jedoch rechtfertigt die Sorge Ihrer Freunde,“ entgegnete er.

„Ich wünschte,“ antwortete sie leise, „daß unsere Freunde keine gerechtfertigtere Sorge hätten, als mein Aussehen. Ich weiß jedoch, daß dem nicht so ist – ich weiß, daß man uns etwas zu verbergen sucht, und ahne eine Gefahr, die Ihnen oder Ihrem Eigenthume droht. Sie sollten uns mehr Muth zutrauen; ist doch Wahrheit, und sei es die herbste, jeder Täuschung vorzuziehen.“

Er schaute auf, als sie so sprach, und ihre Augen begegneten sich. Hanna senkte den Blick dieses Mal nicht zu Boden – offen und ernst suchte er den seinen. Max fühlte, wie sein Herz wieder schneller zu schlagen begann.

„Wohl,“ sagte er, „ich will Ihrem Wunsche willfahren. Sie haben richtig geahnt: ich muß mich auf eine Gewaltthat gefaßt machen. Ich hoffe jedoch, daß Sie mich für Mannes genug halten, mich und mein Eigenthum zu schützen. Uebrigens hat man mir Zeit gelassen, für Verstärkung meiner Streitkräfte zu sorgen. Einige der zuverlässigsten Leute des Fräuleins von Contagne werden unter der Aufsicht meines treuen Kramer das Wohnhaus vertheidigen, welches wir anfänglich aus Mangel an Mannschaften preiszugeben gedachten. Ihr Oheim und ich nebst einigen entschlossenen Burschen werden zum Schutze der Fabrik bereit sein. Gleich nach Tisch werde ich mich entfernen, um mich auf meinen Posten zu begeben. Sie und Marie werden im Schutze dieses Hauses sicher sein.“

Er hatte schnell und leise gesprochen, unbeachtet von den Anderen, die drüben in einer lebhaften Unterhaltung begriffen waren. Jetzt rückte man die Stühle und stand vom Tische auf. Kayser bot Marie den Arm und führte sie in's Nebenzimmer, in dessen Mitte, bestrahlt von dem glänzenden Lichte des Kronleuchters, der neue Flügel stand. Mit einer gewissen Feierlichkeit bat er sie, die Erste zu sein, die darauf spiele. Marie willfahrte dieser Bitte rasch. Und als unter ihren kunstgeübten Händen die ersten Töne durch das hohe Gemach zogen, da hatte selbst für ihr Ohr der prachtvolle Klang etwas so Ueberraschendes, daß sie die Hände sinken ließ und mit entzücktem Lächeln aufschaute.

„Sie sind also zufrieden? – Das freut mich – das freut mich sehr,“ rief Kayser.

Er hätte nicht nöthig gehabt, seine Freude auszusprechen; sie war auf seinem Gesichte zu lesen. Marie, welche während des Tischgespräches mehr als einmal den Ausruf: „welch ein Materialist – welch ein arger Materialist sind Sie!“ hatte unterdrücken müssen, fühlte sich durch diese warmherzige Freude wieder versöhnt mit ihm. Sie reichte ihm lächelnd die Hand, die er nicht nur warm zwischen der seinen drückte, sondern auch mit der Miene ernster Huldigung an die Lippen führte. Als sie wieder zu spielen begann – es war ihr Lieblingsstück, Beethoven’s Sonate Pathéthique – blieb er neben ihr stehen, und betrachtete sie mit Blicken, die ihre Wange dunkler färbten. Sie spielte, wie sie sich bewußt war, schlechter als je vorher. In ihrem Innern machte sie sich Vorwürfe über die Unzufriedenheit, die sie eben gefühlt.

„Ich bin eine Thörin,“ sagte sie sich, „von einem Manne in seinem Alter und von seiner Lebenserfahrung Idealismus zu verlangen. Mag er immerhin die Freuden der Tafel etwas zu hoch anschlagen und zu großen Werth darauf legen – ich will mich stets daran erinnern, daß diese Schwäche tausendfach aufgewogen wird durch seine Biederkeit und Herzensgüte. Hanna hat Recht. Es kann nicht schwer sein, mit diesem Manne glücklich zu werden.“

Eine halbe Stunde später waren die drei Mädchen wieder allein. Die Lampen unten im Saale waren verlöscht, die Läden und Thüren geschlossen, und das ganze Haus lag still und dunkel da, als berge es nichts als Frieden und Schlaf in seinen Räumen.




15.

Die Stunden der Nacht verstrichen langsam wie alle, die in Sorge und Angst verlebt werden. Mitternacht war bereits nahe, und noch hatte sich keines der drei Mädchen zur Ruhe niedergelegt. Sie hatten ihre Sorge vor einander nicht zu verheimlichen vermocht und waren schnell übereingekommen, sich für die Nacht nicht zu trennen. Angstvoll an einander geschmiegt, saßen sie in Hanna’s Wohnzimmer, von Zeit zu Zeit hinaushorchend, ob ein Geräusch in der Ferne ihnen die Bestätigung ihrer bangen Ahnung brächte. Sie hatten nicht gewagt, die Lampe anzuzünden, aus Furcht, daß der Lichtschein aus ihrem Zimmer die Aufmerksamkeit etwa Herumstreichender auf das Haus lenken könnte, eine Furcht, die bei der Nähe der Fabrik durchaus gerechtfertigt erschien. Nur ein schwacher Lichtschimmer fiel aus dem Schlafgemache, wo hinter den sorgfältig geschlossenen Vorhängen ein gedämpftes Nachtlicht brannte, zu ihnen herein. Aber so schwach dieser Schimmer auch war, er reichte doch hin, ihnen die Blässe ihrer Gesichter und die angstvolle Spannung ihrer Züge erkennbar zu machen. So verrann Stunde um Stunde in bangem Schweigen. Hin und wieder erhob sich eine von ihnen, um leise ein Fenster zu öffnen und schärfer hinaus zu horchen. Aber nichts ließ sich vernehmen, als das leise Rauschen der Blätter im Nachtwinde oder das entfernte Bellen eines Hundes. So still war die Nacht, daß die Schläge der Fabrikuhr, als sie die Mitternachtsstunde verkündeten, deutlich bis in ihr Gemach drangen.

„Erst zwölf Uhr!“ sagte Hanna flüsternd, „wird denn diese Nacht nie zu Ende gehen?“

„Die Stunden der Dunkelheit haben wir wenigstens bald hinter uns,“ entgegnete Marie ebenso leise. „Nach Mitternacht geht der Mond auf – in einer Stunde wird die Gegend hell sein.“

„Vielleicht haben sie gerade hierauf gewartet,“ meinte Hanna verzagt.

„Seid nur nicht muthlos!“ ermahnte Paula tröstend. „Jede Stunde, die sie verstreichen lassen, ist ein Vortheil für uns. Wenn unsere militärischen Freunde mit dem Nachtzuge in Elmsleben anlangen, können sie mit dem Morgengrauen hier sein.“

„Bis dahin sind es noch drei Stunden, eine lange Zeit, in der viel geschehen kann,“ sagte Hanna.

Wieder verfielen die Drei in ein langes, angstvolles Schweigen, während dessen Jede ihr Herz schlagen zu hören meinte. Nur das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims unterbrach die Stille und hin und wieder ein leise geflüstertes Wort oder ein halb unterdrückter Seufzer.

„Diese Spannung ist kaum länger zu ertragen,“ sagte Paula endlich sich erhebend und an's Fenster tretend. „Einer Gefahr entgegensehen, die uns selbst droht, mag schlimm sein, aber tausendmal schlimmer ist es noch –“

„St!“ unterbrach Marie hastig ihre Worte, „hört Ihr nichts?“

In athemloser Spannung lauschten die Mädchen hinaus. Der Mond war aufgegangen. Zwar stand er noch nicht so hoch, um ihnen sichtbar zu sein, aber das tiefe Dunkel, das bisher geherrscht, hatte sich bereits gelichtet, und ein mattes Dämmerlicht erfüllte die Gegend. Und als ob die Strahlen des aufgehenden Gestirns mit der Finsterniß zugleich auch das Schweigen verscheucht hätten, ließ sich in der Ferne ein Geräusch vernehmen, anfänglich nur leise, wie das Rauschen entfernter Wasserfluthen, aber allmählich anschwellend, wie das Brausen eines erwachenden Sturmes. Es war ein dumpfer, unentwirrbarer Schwall von Tönen, unerklärbar für jeden Uneingeweihten, aber von grauenvoller Erkennbarkeit für die drei Lauscherinnen.

„Sie sind es. Sie sind es,“ rief Hanna mit angstvoll gerungenen Händen. „Und ich fing bereits an zu hoffen, daß die armen Verblendeten zur Erkenntniß des Elends gekommen seien, das sie im Begriffe sind, auf ihre eigenen Häupter herniederzuziehen.“

„Sie müssen darauf gefaßt sein, das zu ernten, was sie säen,“ sagte Paula streng.

„Sie sind irregeleitet,“ rief Hanna warm.

„Und wenn ich bedenke,“ nahm Marie das Wort, „wie bei Manchen unter ihnen gerade ihre besten Gefühle, ihre Treue gegen das bisherige Regiment, ihre Vaterlandsliebe, ja selbst

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_802.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)