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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


– sie sind der Nachwelt vorbehalten. Eine Tugend aber, welche die Alten auszeichnete, scheint dieser Generation abzugehen – es ist die Beständigkeit im Schaffen für den Tunnel. Viele von diesen jüngeren Singvögeln haben sich nur flüchtig auf den Zweigen des Tunnelbaums gewiegt, um einige Male mit einzustimmen in den Chor und dann wieder auf und davon zu fliegen. Auch von den Alten hat mancher müde Sänger die Harfe an die Wand gehängt und läßt die Spinnen Netze darin bauen; nur zuweilen flüstert ein melancholischer Windshauch durch die Saiten, daß sie ertönen, wie die Erinnerung an entschwundene Tage. So sind es keine glänzenden Früchte, welche der Tunnel aus neuerer Zeit aufzuweisen hat, aber die Liebe zum Schönen wirkt und schafft noch weiter unter alten und jungen Tunnelgenossen. Auch in den Jahren, als Aller Augen auf die großen, blutigen Thaten gerichtet waren, durch welche Deutschlands Größe und Einheit begründet ward, ging der Tunnel still und liebevoll seiner friedlichen Aufgabe nach, und nur wie das Grollen fernen Donners tönte das, was die Zeit bewegte, in Kriegs- und Siegesliedern wieder. Und als das ersehnte Ziel errungen war, wie tönten da im Tunnel so begeistert die Lieder zu Ehren des neuerwachten Vaterlandes! Wie klang da (beim Stiftungsfest 1871, den 3. December) so volltönig „Anakreon's“ Kaisertoast:

„Was unsre Herzen zwingen soll
In eines Freudenrufes Drang,
Muß sein uralten Zaubers voll,
Muß haben einen hohen Klang.
Das freie, einige deutsche Reich,
Das ist ein hohes Wort, fürwahr:
Die deutschen Kronen allzugleich
Auf unsers Kaisers Silberhaar! –“ etc.

Aber auch die Lieder von Lenz und Liebe verstummten nie, und während die Kriegsstürme von 1870 durch die Welt brausten, sang eines der liederreichsten jüngeren Mitglieder, Heinrich Seidel (Frauenlob) im Tunnel:

„Lieder wie Schmetterlinge
Gaukeln genug in der Luft;
Sie schwanken im Windeswehen;
Sie schweben im Blumenduft;
Sie schwingen sich auf aus den Gründen;
Sie flattern herab von den Höh’n,
Und das sind eben die Dichter,
Die sich auf das Fangen versteh’n.“

Auch der Humor hat sein Pathenrecht behauptet. Alljährlich um die Fasnachtszeit findet ein Fest zu Ehren des Schutzpatrons, das „Eulenspiegelfest“, im Tunnel statt. Dann überlassen sich die Tunnler völlig den Eingebungen ihrer heiteren Laune, und nur närrische Spähne kommen zum Vortrage. Die alte Muhme Kritik verstummt an solchen Tagen oder sie versieht ihr Amt auf so neckische Weise, daß der Schalk Tyll, dessen Conterfei von der Wand herabschaut, sein herzliches Behagen darüber empfinden mag. Ja, es kam einmal vor, daß Tyll in leibhaftiger Gestalt, in Schellentracht und Kappe, unter seine Jünger trat, dem angebeteten Haupte das Eulenscepter abforderte und selbst den Vorsitz übernahm. Zuweilen waren bei dem Eulenspiegelfeste schwierige Preisfragen gestellt, an deren Lösung sich Witz und Scharfsinn der Tunnler in den verschiedensten poetischen Formen üben konnten, z. B. die Frage, ob im Falle einer Feuersbrunst im Tunnel von den beiden Symbolen der Spiegel oder der Stiefelknecht zuerst zu retten sei, oder woher es komme, daß unsere Jungen nur Schneemänner und nie Schneefrauen bauen.

Unter der regen Theilnahme zahlreicher Gäste, unter denen auch das schöne Geschlecht vertreten ist, begeht der Tunnel jährlich sein Stiftungsfest. Die Mitglieder erscheinen dazu im Schmucke ihres – von Tyll bei der silbernen Jubelfeier gestifteten – Tunnelordens. Auch aus der Ferne finden sich alte liebe Freunde zu dieser Feier ein; andere senden dem Geburtstagskinde Grüße und „Spähne“. Die Festsitzung wird zum größten Theile durch eine „Concurrenz“, d. i. ein Wettringen und Wettsingen um einen Ehrenpreis für den besten Spahn, sei es in gebundener oder in ungebundener Rede, ausgefüllt. Es verbindet sich mit dieser sogenannten „Immermanns-Concurrenz“ die dankbare Erinnerung an den dahingeschiedenen Freund W. von Merkel, welcher die Zinsen eines gewissen Capitals für diesen Zweck dem Tunnel vermachte. Mit offenem Visir treten die Kämpen nach einander in die Schranken, die sämmtlichen anwesenden Tunnel-Mitglieder bilden das Schiedsgericht. Eine beliebte Form der Preisbewerbung ist die Tenzone, bekanntlich ein dichterischer Zweikampf, in welchem zwei Dichter für verschiedene Ansichten eintreten und sich gegenseitig mit Gründen zu schlagen suchen. Die Spannung steigert sich von Strophe zu Strophe, und der Zweikampf wird oft erst durch den Schiedsspruch eines von Beiden angerufenen unparteiischen Dritten beendigt. Nicht immer ist das Thema so zart und sinnig, wie „die Rose mit Dorn und die Rose ohne Dorn“, „die Kunst der Rede und die Kunst des Schweigens“, sondern es ist oft den Kämpfenden anheimgegeben, ein scheinbar trockenes oder gar ein so ledernes Thema, wie den „Wettstreit von Stiefel und Schuh“, durchgefochten von „Hufeland“ (A. Löwenstein) und „Willamow“ (F. von Köppen), durch ihre Kampfesweise anmuthig zu beleben. Forderte „Hufeland“ seinen Gegner heraus:

„Auf, das Leben ruft zum Kampfe!
Wo bleibt der Soldat, der Mann?
Recht und Freiheit zu vertheid'gen,
Zieh’ – Kanonenstiefeln an!“

so entgegnete ihm „Willamow“:

„Kämpfst Du mit Kanonenstiefeln?
Ich verharr’ in stolzer Ruh';
Auch Du eilst durch Kampf zum Frieden,
Kämpfst in Stiefeln für den Schuh;
Daß dem König Friede werde,
Steht das Volk in Waffen ein:
Jeder Schuh der deutschen Erde
Soll mit Blut vertheidigt sein.“

Die Versöhnung erfolgte schließlich unter dem Zeichen des Stiefelknechts, den der Tunnel in seinem Wappen führt.

An die Festsitzung schloß sich auch stets ein Festmahl, gewürzt durch Trinksprüche und Tischreden, durch Gesang und musikalische Vorträge.

So hat der Tunnel neunundvierzig Mal seinen Geburtstag gefeiert und schickt sich nun an, ihn zum fünfzigsten Male zu begehen. In denselben Lufträumen, in denen er gestiftet worden – jetzt Kaisergalerie, Restaurant Kothe – versammeln sich am 3. December die alten und neuen Freunde des Tunnels; „Campe, der Karaibe“, welcher vor fünfzig Jahren als Schriftführer das erste Protocoll aufnahm, schwingt jetzt als „angebetetes“ weißes Haupt das goldene Eulenscepter über dem Tunnelreiche. Möchte dasselbe noch lange fortblühen und edle Früchte zeugen, und möchten an den Tunnelgenossen die Verse aus Spinoza-Löwenstein's altem Tunnelliede sich bewähren:

„Im Tunnel stets die Alten, im Lehen jung und neu,
So woll'n wir sein und halten an uns in alter Treu';
Und wenn auch manche Triebe im Grabe schlummern ein,
Soll doch vom Baum der Liebe kein 'Spahn' verloren sein.“




Blätter und Blüthen.


Das irdische Paradies der Sultane. (Mit Abbildung auf S. 829.) Es ist kein durch ehrwürdiges Alter ausgezeichneter Wonnesitz der Beherrscher des Türkenreiches, sondern eine Luxusblüthe der jüngsten Zeit, am Bosporus in’s Leben gezaubert auf Befehl des heimgegangenen Sultans Abdul Aziz durch den Baumeister Serkis Bey, und jener fürstliche Bauherr war es auch, der dieses sein „irdisches Paradies“ vor den Blicken aller Sterblichen verschloß. Eine besondere Vergünstigung, durch die Zeitumstände leichter erwirkt, machte unserem Zeichner, Herrn Phil. Montoreano, den Besuch der geweihten Stätte möglich, die nur den Anhängern des großen Propheten offen steht. Seinen brieflichen Mittheilungen folgen wir in dem Nachstehenden; unsere Illustration wurde nach seinem Aquarellbilde auf Holz übergezeichnet.

„Der Garten des Jildiz Kiosk (Sternpalastes) ist ein Gegenstand der Sehnsucht der Gläubigen und der Neugierde solcher Ungläubigen, welche mit Stift und Griffel nach bezaubernden Bildern für europäische Augen suchen. Ersteren öffnet sich der Hauptzugang alle Freitage nach dem 'Selamlik', das heißt nach dem Gebete des Sultans. An dem Tage, an welchem mir der Zutritt ermöglicht worden war, staute sich die zuströmende Menge im Thore, weil dort ein Officier mit mehreren Dienern des Sultans Niemanden unvisitirt eintreten ließ. Alles, was man in Händen und Taschen zu bergen pflegt, Pakete, Schachteln, Waffen, Regenschirme, Stöcke u. dergl. mußte dort niedergelegt werden bis zur Rückkehr der Besitzer von der Gartenpromenade. Nur den Sonnenschirm durfte man behalten, ihn jedoch auch bei dem brennendsten Sonnenscheine nicht öffnen. Als ich endlich in den Garten gelangt war, fiel mir als erster Gegenstand zu rechter Hand eine kleine Menagerie mit Hirschen und ein Vogelhaus in die Augen. Rasch daran vorübereilend, gelangte ich auf einem breiten, aufsteigenden Wege zwischen oft prächtigen Bäumen hin auf eine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 831. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_831.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)