Seite:Die Gartenlaube (1877) 841.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


dieser Typen hält bei der Stufe fest, die seinen Lebensbedingungen zukommt; der Schwimmer hat nur Schwimmfüße; der Fahrgast zeigt einige, der Außenschmarotzer die meisten Füße zu Klammern umgewandelt; der Binnenschmarotzer hat nur noch Hakenstummeln. Der Binnenschmarotzer durchläuft aber während seiner Entwickelung in seiner Rückbildung alle diese Stufen – die junge Lausassel hat die Bildung eines Fahrgastes mit ihren drei langen Hakenfußpaaren.

Kein Zweifel also, daß diese Stufen Wirkungen lange andauernder Anpassung an das Schmarotzerthum sind, und kein Zweifel auch, daß die einmal erreichten Vortheile, die nur für diesen Zweck Vortheile, für die Gesammtorganisation aber Rückschritte sind, auf die Nachkommen vererbt wurden und noch vererbt werden.

Gerade diese Rückbildung in Folge einseitiger Anpassung an einen beschränkten Lebenszweck aber leitet zu einem großen Gesetze, dessen Wichtigkeit bis jetzt noch nicht genügend hervorgehoben wurde und das ich das Gesetz der Freiheit in der organischen und speciell in der thierischen Welt nennen möchte. Nur bei dem freien Thiere, das nach allen Seiten hin um sein Leben kämpfen muß, nur bei diesem führen auch Anpassung und Vererbung zu stufenweiser Vervollkommnung der Organisation; wo diese Freiheit in irgend einer Weise beschränkt ist, die Anpassung also zu einer einseitigen Ausbildung nach einem engeren Ziele führt, da sehen wir auch als Resultat die Rückbildung derjenigen Functionen, welche nebensächlich werden, und damit auch das Zurücksinken des Gesammtorganismus.

Um aber dieses wichtige Freiheitsgesetz in seinem Ganzen näher begründen zu können, dürfte es nöthig sein, noch weitere Wirkungen der einseitigen Ausbildung und Anpassung dem Leser vor die Augen zu führen. Es ist ein bekannter Satz, daß wir die Wirkungen der Freiheit nur dann gehörig schätzen und würdigen, können, wenn wir die Folgen der Sclaverei erkannt und bis in das Einzelne erfahren haben.




Karpathen-Menschen.
Von F. Sch.


Schiller ’s oft citirtes Wort „Auf den Bergen ist Freiheit“ bewährt sich in politischer Beziehung leider bis heutzutage nur auf wenigen Bergen unseres Planeten, jene unwirthlichen Höhen etwa ausgenommen, wo nur die flüchtige Gemse und das scheue Schneehuhn hausen, oder der stolze König der Lüfte seine mächtigen Schwingen entfaltet, für menschliche Wesen aber – seien es Herren oder Knechte – die Existenzbedingungen fehlen. Wer jedoch mit voller Brust den reinen Aether der Alpenregionen athmet, offenen Auges deren Wunder schaut, erkennt bald den tiefen Sinn des Dichterspruches in der köstlichen Kraft- und Lebensfülle, welche in dieser rauhen Zone alle seine Pulse durchdringt, jener Kraftfülle, in deren Vollbewußtsein die Bewohner der Berge – von den Tagen der grauen Vorzeit an bis heute – oft genug mit heldenkühnem Todesmuthe die Sclavenketten zerrissen, welche ihnen Hinterlist und Uebermacht angelegt.

Mir wenigstens drängte sich diese Erkenntniß mit unabweislicher Gewalt auf, als ich vor Jahren eines der schönsten und unbekanntesten Hochländer Europas kennen lernte; allerdings nicht etwa in flüchtiger Touristenart, sondern so gründlich, daß ich einen dauernden, wenn auch luftigen Wohnsitz inmitten jener erhabenen Bergriesen aufschlug, deren massige Körper Siebenbürgen von dem Lande scheiden, das eben jetzt der Schauplatz folgenschwer blutiger Ereignisse ist. Ja so sehr erfüllte bald auch mich diese strotzende Lebenskraft, daß ich der von dem Leben in solcher Wildniß unzertrennlichen Entbehrungen und Mühen gar nicht mehr achtete und es trotz frugalster Kost und tüchtiger Strapazen gar köstlich fand, so den ganzen lieben Tag die großartige Bergwelt um mich her zu durchstreifen, balsamische Lüfte athmend, den Blick in unendliche Fernen tauchend, die Nächte aber im luftigen Raume des am Rande eines Urwaldes aufgeschlagenen Zeltes zuzubringen, hingestreckt auf weichem Moos, eingelullt vom leisen Gesange einer jungfräulichen Alpennajade und dem geheimnißvollen Rauschen himmelanstrebender Baumwipfel.

Sehr lebhaft erinnere ich mich noch einer Excursion auf die nächstbedeutendste Höhe, bei welcher Gelegenheit ich in meinen beiden Führern, dem alten Vorescu und seinem Sohne Pietru, deren kleine, doch kräftige Pferdchen auch die Vermessungsinstrumente zu tragen hatten, ein paar originelle Typen dieses Bergvölkchens kennen lernte. Vorescu lebte, wie fast alle Bewohner dieser Gegend, den Winter über in einem etwas tiefer gelegenen Bergdorfe, im Sommer aber in den Stinen (Alpenhütten) auf den Höhen, wo es reichliche Nahrung gab für seine Schafe, und war ein prächtiger alter Mann von seltener geistiger und körperlicher Frische; sein Sohn Pietru dagegen gehörte mehr zu jener Sorte von Kraftmenschen, welche weit lieber Arme und Beine, als das Gehirn anstrengen, womit jedoch nicht gesagt sein soll, daß dem jungen Riesen keine angemessene Portion gesunden Menschenverstandes zu Theil geworden wäre.

Es war ein herrlicher Morgen, als unser kleiner Zug aufbrach dem Dialu Negru (schwarzer Berg) zu, als dem Ziele der heutigen Wanderung. Die Luft war wie immer von den süßesten Düften der thauigen Alpenkräuter und Blumen erfüllt und zugleich von jener durchsichtigen Reinheit, welche entfernte Gegenstände näher, nahe aber in köstlichster Farbenfrische erscheinen ließ. Dazu jubilirten Finken, Zeisige, Stieglitze und wie all die lustigen Waldsänger heißen, im grünen Dome des majestätischen Buchenwaldes; es eröffneten sich von Zeit zu Zeit zwischen den moosbärtigen Stämmen wundervolle Fernsichten auf duftig blaue Berge und in der Morgensonne rothgoldig erglühende Thäler. Kein Wunder, daß Menschen und Thiere unserer Gesellschaft so rüstig und munter aufwärts schritten, als wäre das Wandern auf steilen, wenig begangenen Saumpfaden nur mühelose Lust. Und rüstig und munter wie Einer schritt der alte Vorescu Allen voran, so rüstig und munter, als gäbe es für ihn keine Last der Jahre, kein Welken und Ersterben der Glieder. Wahrlich der Greis mit dem noch immer frischen gedankenvollen Blick und dem eigenthümlich kaustischen Zuge um die Lippen war gewiß einer näheren Bekanntschaft werth, dachte ich und eilte an seine Seite.

„Holla, Großväterchen,“ sagte ich, ihm die volle Feldflasche reichend, „Eure Beine strafen Eure weißen Haare Lügen; sie können unmöglich alt sein.“

„Doch, doch, lieber Herr, alt genug,“ meinte der Alte geschmeichelt, nachdem er einen kräftigen Schluck gethan.

„Nun, wie alt etwa?“

„Wer das so genau wüßte!“ versetzte der Gefragte nachsinnend, „ich zählte eben nie, denn wozu? Der Tod fragt doch nicht nach den Jahren, sondern nimmt Jung und Alt, wenn ihre Zeit um ist, aber wenn Ihr es wissen wollt, Herr, weniger als achtzig Jährchen sind es wohl kaum und mehr als hundert[1] auch nicht.“

„Allzu großer Genauigkeit darf sich Euer Taufschein nicht rühmen,“ versetzte ich heiter, und einen weiteren Anknüpfungspunkt suchend fügte ich hinzu: „und der große Junge da rückwärts ist also Euer Sohn?“

„Ja, Herr.“

„Und an Enkeln fehlt es auch nicht?“

„Ach Herr, gerade daran fehlt es am meisten,“ erwiderte der Alte kummervoll.

„Hm, sonderbar,“ meinte ich, „wenn man den Prachtjungen so ansieht, sollte man glauben –“

„Gewiß, Herr,“ fiel der Alte ein, „darum wäre auch mir nicht bange – hätte er nur schon eine Frau!“

„Wetter, Eure Mädchen müssen sehr heikel sein, wenn sie da nicht anbeißen,“ bemerkte ich.

„Ei Herr, die Mädel möchten schon anbeißen,“ beeilte sich Vorescu aufklärend zu berichten, „aber eben darum, weil sie ihm Alle nachlaufen, mag er sie nicht.“

„Bis einmal die Rechte kommt.“

Der Alte schüttelte wehmüthig den Kopf und meinte dann seufzend: „Ich fürchte fast, daß ich’s nicht erlebe; denn seht,

  1. Vorlage: „hnndert“
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 841. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_841.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)