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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


lediglich von den Verhältnissen der Familie und der Individualität der Schülerin ab. Aber die eine Mahnung sei doch noch ausgesprochen: das Gute, das die Institute bieten, wirkt um so mächtiger und sicherer, die Gefahren, die sie für den sich entwickelnden Charakter bergen, verschwinden um so mehr, je reifer an Urtheil und Verständniß, je fester im Wissen und Können die Schülerin in den ihr neuen Kreis eintritt.

Laßt die deutsche Schule erst ihr ganzes, volles Werk an euren Mädchen thun, ehe ihr sie in ein französisches Pensionat schickt! Laßt es erst den ganzen Schulgang zu Hause durchmachen, laßt es Alles lernen, was die Schule der Heimath bietet, und dann erst, wenn euch dann das Bischen Französisch noch die Trennung von eurem Kinde werth ist, dann schickt es in’s Welschland! Dann werden außer dem Gewinn an Sprachfertigkeit auch gute Kräfte um so reicher auf die junge Seele einwirken, die der Prospect nicht ausdrücklich verspricht, die sich aber aus einer neuen Umgebung, aus einer streng geregelten Häuslichkeit, aus einer großen schönen Natur von selbst ergeben.

Das Kind ist in der Heimath herangewachsen; Menschen und Verhältnisse dort waren ihm von früh an vertraut; es hat sie hingenommen, wie sie waren, ohne viel darüber nachzudenken. Jetzt kommt das Mädchen unter fremde Menschen; es sieht neue Lebensgewohnheiten; es vergleicht; es beobachtet; es folgert; die Fremde lehrt auf einmal die ferne Heimath in einem neuen Lichte erkennen, und dieses neue Verständniß des Alten hilft ihm zum Erfassen des Neuen; wozu es bisher in der Schule von Andern methodisch angeleitet worden, das thut es jetzt selbstständig. Dazu übt die streng durchgeführte Tagesordnung einen sehr heilsamen Einfluß auf den Charakter, jeder Beschäftigung ist ihre ganz bestimmte Zeit angewiesen – da gilt kein Aufschieben einer mißliebigen Arbeit, kein Ausdehnen der Stunde, die uns besondere Freude bringt. Der Perpendikel herrscht und die Glocke ist die Verkündigerin seiner Befehle. Die große Kunst des Lebens, mit der Zeit Haus zu halten, wird hier gelehrt, und Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Selbstüberwindung können nur gewinnen. Und um nun das Letzte und Schönste zu nennen: den meisten Instituten der Cantone Waadt und Genf glänzt ein See, den die Dichter aller Nationen in ihren Liedern gefeiert, ohne seine Schönheit ausgesungen zu haben; ernste, starre Berge von gewaltigen Formen bewachen ihn; Europas höchster Riese, der Mont Blanc, schaut in gar manches Pensionatsfenster; üppige Vegetation umgrünt die Häuser; alte Thürme und Schlösser spiegeln sich in dem tiefblauen Wasser; das sagen- und liederumsponnene Chillon steigt geisterhaft weiß aus dem Wasserspiegel auf. Den Instituten von Yverdon, Grandson, Neuchâtel, Montmirail und Neuveville aber schimmert in der Ferne die ganze Alpenkette von den Häuptern der Mittelschweiz bis zum Mont Blanc; auch ihnen spielen die klaren Wellen eines Sees zu Füßen. All diese Herrlichkeit aber legt sich täglich und stündlich den jungen heranreifenden Menschenkindern an’s Herz; sie wissen es vielleicht selbst nicht, wie sie sich davon erfüllen lassen, und durch Zahlen und bestimmte Formen ist gewiß der Gewinn nicht auszudrücken, den eine schöne Natur der Seele bietet, aber denken wir uns ein junges Leben gerade in der Zeit, wo Körper und Geist dem Dunkel der Kindheitszelle entschlüpft sind, unter der Einwirkung einer mit jeder Schönheit geschmückten Landschaft, und wir werden uns sagen müssen, daß hier Geist und Körper Einwirkungen erfahren, die für das ganze Leben nachhalten sollten.

Und so hätten wir denn nach Wissen und Gewissen Alles dargelegt, was die Institute der französischen Schweiz unseren Mädchen nützen und was sie schaden, die Bilanz aber aus dem Für und Wider muß ein Jeder sich selbst ziehen und speciell für sein Kind abwägen. Vielleicht kommt eine Zeit, wo der Staat sich von den Pensionen, die höhere Lehranstalten sein wollen, zuerst den Nachweis führen läßt, daß sie dies können. Im Canton Bern arbeitet eine Partei eifrig daran, für alle Stände in’s Gemein unentgeltlich Secundarschulen (also höhere Schulen) durchzusetzen; wenn diese Partei durchdringt, wenn auch die anderen Cantone Berns Beispiel folgen, dann dürften auch an die Privatinstitute höhere staatliche Anforderungen gestellt werden.

Doch sind das zwei große „Wenn“, die ihrer Erfüllung noch sehr fern sind, und es fragt sich, ob man die Erfüllung überhaupt wünschen soll. Doch bis auf die eine oder die andere Art in der allgemeinen Instituts-Calamität Abhülfe gefunden worden ist, läßt sich nur die Warnung wiederholen: Was eure Mädchen wissen sollen und müssen, das laßt sie zu Hause in der Schule lernen, und wenn sie das gelernt haben, dann schickt sie, wenn ihr das wünschenswerth haltet, noch auf ein Jahr fort!

Zum Schluß aber sei noch der Heimath erzählt, wie deutsche Mädchen in der fremden Pension das Sedanfest gefeiert haben.

Schon Wochen vorher war ausgerechnet worden, daß der Festtag diesmal auf einen Sonntag fällt. Heimliches Einüben der Wacht am Rhein, lebhaftes Besprechen während des täglichen Spazierganges, Toilettenberathungen leiteten das Ereigniß schon lange zuvor ein. All diese Vorverhandlungen mußten natürlich in französischer Sprache geführt werden. Aber als der Abend des ersten September und damit der Vorabend des Festes kam, da sprachen auf einmal nach Schluß des Unterrichts alle die jungen Mädchen (vierzehn an der Zahl) nur deutsch. Wenn man weiß, daß jedes deutsche Wort mit fünf Centimes gebüßt wird, wenn man die unausbleibliche Redseligkeit bei solch einer Extra-Gelegenheit kennt, so muß man sich sagen, daß dies unter Umständen ein theueres Vergnügen werden konnte. Die Lehrerschaft staunte, aber sie schritt nicht ein. Den nächsten Tag aber, also am Festtag selbst, wurde Nachmittags feierlich die größte Gartenlaube in Beschlag genommen, jede Deutsche, mit einer deutschen Schleife geschmückt, holte Confect, Chocolade oder irgend eine andere Herrlichkeit hervor und diese Süßigkeiten, der Gesang von Vaterlandsliedern und natürlich wieder nur deutsche Reden feierten die Bedeutung des Tages. Die andern Pensionärinnen umstanden die Gesellschaft anfangs in stummer Verwunderung. Theilnahme, Spott, Freude, verletztes Nationalgefühl spiegelten sich auf den jungen Gesichtern und endlich gab letzteres einer Französin die Worte ein: „Sie müssen berauscht sein.“

Ja, sie waren es, aber nur von der Liebe zum fernen Vaterlande, von dem Stolz auf seine Größe, von der Sehnsucht nach ihren Lieben zu Hause, mit denen sie sich heute in der Sedanfeier geistig vereint wußten. Am Montag aber schien das Strafgericht kommen zu sollen. Die erste Frage an sämmtliche Schülerinnen lautete: „Wer hat vorgestern und gestern deutsch gesprochen?“

Die vierzehn Deutschen erhoben sich wie ein Mann.

„Warum thaten Sie’s?“

„Es war unser Nationalfesttag; da können wir nicht französisch sprechen.“

Die Antwort genügte. All die Fünf-Centimes-Stückchen blieben ruhig in den Taschen und unsere jungen Landsmänninnen waren so stolz und so glücklich, als hätten sie einen großen Triumph gefeiert. Sie durften es sein.

Mit diesem freundlichen Bilde schließen wir unseren Rundgang durch die Institute der französischen Schweiz. Mögen unsere jungen Mädchen dort sich deutsches Wesen und den rechten deutschen Stolz bewahren; gerade dieser wird ihnen helfen, neben der schönen Landessprache auch die gefällige Form französischen Wesens, die Liebenswürdigkeit im Verkehr verstehen zu lernen und sich anzueignen.



Erinnerungen aus dem Kriege mit Frankreich.
Von Moritz Busch.
5. Bismarck und Favre in Haute Maison. – Ankunft im Schlosse Rothschild’s. – Schlechter Empfang. – Endeckungsreisen in Haus und Park. – Eine verkannte Göttin des Barons.
Nachdruck verboten.

Ich übergehe wieder eine große Anzahl interessanter Erinnerungen aus den ersten drei Wochen des September, um dann Einiges über unsern Aufenthalt in Ferrierès, dem Schlosse des Pariser Goldonkels Rothschild, mitzutheilen. Die Stationen auf unserer Reise waren Rethel, wo wir uns nur einen Tag aufhielten, Reims, wo wir am 5. eintrafen, um am 14. wieder wegzufahren, Château-Thierry im Thale der Marne und Meaux, die Stadt Bossuet’s, wo das große Hauptquartier

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 872. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_872.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)