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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


No. 1.   1878.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



An unsere Leser.

Unsere Absicht, die neue Erzählung von E. Marlitt „Im Schillingshof“ an die Spitze dieses Jahrgangs zu stellen, wurde durch den leidenden Gesundheitszustand der Verfasserin zu unserem lebhaften Bedauern unausführbar. Wir beginnen das neue Quartal mit der bereits für den vorigen Jahrgang bestimmten und auch angezeigten Novelle von Ernst Wichert „Gebunden“ und werden nach Abdruck dieser kürzeren Erzählung noch in diesem Quartal E. Werner’sUm hohen Preis“ folgen lassen. Jedenfalls kommen im Laufe des Jahrgangs 1878 zum Abdruck die bereits angekündigten novellistischen Beiträge:

E. Marlitt,
Im Schillingshof“,
E. Werner,
„Um hohen Preis“,
Leipzig, Anfang Januar 1878.             
W. Heimburg,                             
„Lumpenmüllers Lieschen“.  Schloßgeschichte.  
Die Redaction.           


Gebunden.
Erzählung von Ernst Wichert.[1]
1.

An einem herrlichen Juliabend spazierte eine kleine Gesellschaft den breiten Weg entlang, der hinter der reizend gelegenen Stadt Thun in die Berge hinauf führt.

Es waren drei Herren und zwei Damen.

Ich kenne sie, sie sind meine Landsleute. Der Eine der Herren, den beiden Anderen an Jahren voraus und nicht leicht zu übersehen wegen seiner mächtigen Nase und den großen, klugen, zugleich gutmüthigen Augen, ist der Gerichtsrath Pfaff, ein Junggeselle, der sich zu Hause täglich an der Actenarbeit einige Stunden „die Beine verläuft“, seine Ferien aber zu weiteren Reiseausflügen zu benutzen pflegt, wohl der einzige Luxus, den er sich gönnt. Uebrigens reist er gern „mit Familie“, das heißt mit einem jungen „Collegen“, für den er die Kosten aus seiner Tasche bestreitet. Diesmal scheint er außer dem Referendar Hell, dem schlanken jungen Manne mit dem blonden Bärtchen und der Brille, auch dessen jüngeren Bruder, den Philologen, auf seine Rechnung genommen zu haben.

Die beiden Damen gehören also eigentlich nicht „zur Familie“; sie sind nur „unterwegs angetroffen“, übrigens aber nicht nur Bekannte, sondern entfernte Verwandte des Raths. Der verstorbene Mann der älteren, ganz in Schwarz gekleideten Dame, Oberstlieutenant von der Wehr, war sein Vetter in irgend einem Grade, den näher festzustellen schwerlich der Mühe lohnt, und das sehr junge, hochaufgeschossene Fräulein mit dem langen, aschblonden Haare unter dem breiten Florentiner, Irmgard, ist dessen Tochter und einziges Kind. Sie wurden aus Gesundheitsrücksichten auf Reisen geschickt, sind vor etwa acht Tagen in Thun angekommen und haben dort, weil ihnen das Städtchen auf den ersten Blick ungemein gefiel, für längere Zeit Quartier belegt. Am Dampfbootsplatze haben sie den Gerichtsrath mit seinen Begleitern getroffen und ihn ohne Mühe vermocht, sich einen Ruhetag in ihrer Gesellschaft zu gönnen.

Ein richtiger Ruhetag scheint’s nun wohl nicht werden zu wollen. Die Sehnsucht der beiden jungen Herren, die zum ersten Male die Schweiz und überhaupt ein Bergland sahen, waren die Schneehäupter jenseits des Sees, und am liebsten hätten sie sicher gleich Vormittags die Reise ohne Aufenthalt zu Schiff fortgesetzt, um ihnen am Abend schon ganz nahe zu sein. Nun meinten sie, sich wenigstens „im Steigen üben“ zu müssen. Sie hatten es anfangs auf der mehr ebenen Straße für ihre Pflicht gehalten, der jungen Dame Gesellschaft zu leisten, wie sie sich aber auch abwechselnd bemühten, ein Gespräch in Gang zu bringen, das Fräulein antwortete immer möglichst knapp, schien für witzige Bemerkungen gar kein Ohr zu haben, lächelte bestenfalls sehr überlegen und war offenbar nur besorgt, die Würde ihrer fünfzehn oder sechszehn Jahre in Gegenwart der Mama und des Onkels gebührend zu wahren. Vielleicht hinderte sie auch das schwarze Kleid, das sie wie ihre Mutter trug, sich der Lustigkeit zu überlassen, mit der ihre Begleiter sie vergebens anzustecken suchten.

Die Brüder hatten daher die junge Dame aufgegeben und waren bald voraus, bald hinter den Uebrigen, bald seitwärts links über ihnen auf einem steileren Richtpfade, bald rechts eine Strecke

  1. Verf. von „Schuster Lange“.                         
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_001.jpg&oldid=- (Version vom 28.2.2019)