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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

„Es ist durchaus nicht meine Anordnung. Ich habe im Gegentheil alle meine Bemühungen angewendet – schon ein Jahr nach dem Tode des Vaters – sie zu einem Wechsel zu vermögen. Vergebens! Sie berücksichtigen nicht die besondern Umstände und die ganz eigene Natur des Mädchens. Mein Mann liebte seine einzige Tochter mit einer Zärtlichkeit, die sonst, wie Sie sehr richtig bemerkten, seinem Wesen fremd war. Seine soldatische Rauhheit, sein heftiges Aufbrausen, seine Strenge – nie äußerten sie sich gegen Irmgard; kein Wunder, daß ihm sein Kind eine schwärmerische Neigung entgegenbrachte. Während seiner Abwesenheit im Felde betete Irmgard stündlich für ihn – die Aufregung machte sie krank. Und dann die Nachricht von seiner tödtlichen Verwundung, die ihr nicht vorenthalten werden durfte, die Reise, der Anblick seines Krankenlagers, der letzte Kampf – er beschäftigte sich in den Stunden vor seinem Tode nur noch mit ihr, küßte sie wieder und wieder, hielt ihre Hand, als er hinüberging. Irmgard kann das nicht vergessen, und sie leidet auch nicht, daß man’s in Vergessenheit bringen will. Sie hat in sich religiöse Vorstellungen ausgebildet, die ihr eine Art von geistigem Rapport mit dem geliebten Todten ermöglichen, und sie würde mich für die liebloseste Seele halten, wenn ich hier Widerspruch versuchen wollte. Sie hat ein tiefes, aber auch verschlossenes Gemüth; es ist sehr schwer, durch Erziehung auf sie zu wirken, und nun in einem Alter, in dem von unserem Geschlecht die Mahnung zur Vernünftigkeit auch von den gutartigsten Naturen als ein Eingriff in das Allerheiligste der Idealwelt abgelehnt zu werden pflegt. … Lieber Cousin, ich bekenne mich gern als eine sehr schwache Mutter, aber hier würde auch eine strengere nichts ändern.“

Während so über Irmgard gesprochen wurde, stieg sie hinter den Brüdern her mit sicheren Schritten den ziemlich steilen Felsenpfad hinan. Die Bergwiese zog sich in einem langen, nicht sehr breiten Streifen um den dahinter höher aufstrebenden Fels hin. Ein guter Weg durchschnitt sie der Länge nach; er gewährte wahrscheinlich an einer anderen Stelle einen viel bequemeren Auf- und Abstieg. Auch hier fehlte es nicht an Häuschen, die zur Aufnahme von Fremden bestimmt sein mochten. Sie gingen an mehreren derselben vorüber. Und dort weit ab – nahe dem Felsvorsprung, auf den ein neuer Zickzackweg führte, dessen Windungen im Sonnenlicht sich scharf in die graue Masse zeichneten – lag auch die kleine Villa, anscheinend das letzte Haus. Es war wohl schon im vorigen Jahrhundert gebaut worden und nicht mehr im besten Stande. Das Wasser aus den zerbrochenen Rinnen hatte die Wände geschwärzt; über einem Eckfenster war die Wölbung eingesunken; die Stuckverzierung hatte sich hier und dort gelöst. Man hätte den Raum für unbewohnt halten können, wenn nicht zwei Fenster innen mit weißen Leinentüchern halb verhängt gewesen wären, eine Vorrichtung, die durchaus Jemand voraussetzte, der zu gewissen Tageszeiten die zu dreiste Sonne abhalten wollte. Uebrigens stand die Thür weit offen, wie zum Eintritt einladend.

Die Reisenden hielten ein Weilchen vor der Terrasse. Man hatte sich ein Ziel gesetzt und interessirte sich nun auch für dasselbe. Da sich Niemand an den Fenstern blicken ließ, wurden die jungen Herren dreister, schritten die Stufen hinauf und blickten in den offenen Flur, dann bald auch rundum durch die kleinen Scheiben in die inneren Gemächer hinein. Während Irmgard stehen blieb, verschwanden sie hinter der Rückseite des Hauses und tauchten an der entgegengesetzten Ecke wieder auf. Der Referendar zuckte sehr bezeichnend die Achseln, indem er zugleich die leeren Hände zeigte, und sein Bruder rief hinüber. „Keine Menschenseele! Das ganze Haus wie ausgestorben. Nicht einmal ein dienender Geist zu bemerken, den man zur Entschuldigung seiner Neugierde um ein Glas Wasser bitten könnte. Treten Sie nur dreist näher, mein Fräulein!“

„Aber ist denn da irgend etwas Bemerkenswertes zu sehen?“ fragte Irmgard.

„Vielleicht doch! In dem großen Zimmer, das schon ein kleiner Saal genannt werden kann, hat ein Maler sein Atelier aufgeschlagen. Es steht auch ein Bild auf der Staffelei, dessen Gegenstand man aber von außen nicht gut erkennen kann. Es scheint eine Thiergruppe vorstellen zu sollen.“

Dem Fräulein machte das einsame Haus nun erst recht den Eindruck des Geheimnißvollen. Ihre Phantasie arbeitete schon lebhaft, und es war ihr zu Muthe, als ob da irgend ein kleines Abenteuer erlebt werden müßte. Sie trat nun ebenfalls näher.

Auch die Thür nach dem Atelier war unverschlossen. „Zu stehlen ist da in der That nicht viel,“ bemerkte der Jurist, als sie Umschau hielten. In der Nähe des Fensters, jetzt hinter den Vorhang zurückgeschoben, stand die Staffelei; auf den Stühlen in der Nachbarschaft lagen allerlei Mal-Utensilien, auf einem Tische Blätter von verschiedener Größe mit Umrißzeichnungen. An den Wänden waren unregelmäßig Oel- und Aquarellskizzen mit Nägeln befestigt. Auf einem kleinen Tische unter dem in die Wand eingelassenen Spiegel stand eine große Cigarrenkiste ohne Deckel neben kleinen Figuren von Gyps und Bronze; es lagen darin beschriebene Zettel, Karten und dergleichen Papiere, die natürlich nicht näher in Augenschein genommen wurden.

Das Bild stellte eine Viehheerde dar, die bei heranziehendem Gewitter unter einem Felsvorsprunge Schutz suchte und den Platz schon von einer Gesellschaft vorsichtiger Reisender mit ihrem Führer besetzt fand, die hier im Trockenen den Regen vorüberziehen lassen wollten. Der Schreck der wunderlich costümirten Damen und andererseits das Stutzen und Ausweichen der schönen Thiere, das neugierige Vorschauen des alten Hirten und das ärgerliche Zuspringen eines kleinen zottigen Hundes, der sich für berufen hielt, den Seinigen Platz zu schaffen, war mit großer Lebendigkeit und Naturtreue ausgedrückt und zugleich recht humoristisch zur Erscheinung gebracht. Jede einzelne Figur gab zu Aeußerungen der Bewunderung Anlaß. „Das Bild wäre ich im Stande, auf dem Rücken bis in die Heimath zu schleppen,“ versicherte der Referendar, und Irmgard, die mittheilsamer geworden war, erklärte mit Kennerblick: der das gemalt habe, sei ein Künstler von Gottes Gnaden; sie hätte sich’s gleich gedacht, daß hier aus der einsamen Höhe kein ganz gewöhnliches Menschenkind hausen könne.

„Schade, daß uns seine interessante Bekanntschaft entgeht!“ meinte der Philologe.

„Nach seinem Bilde zu schließen, ein recht gemüthlicher Mann!“ bemerkte der Referendar dazu. „Aber es wird Zeit zu gehen.“

Irmgard zögerte. „Sollen wir uns nun so fortstehlen?“

„Wir haben uns ja ohne Erlaubniß eingeführt, mein Fräulein.“

„Umsomehr hätten wir Grund, auf gute Art zu erkennen zu geben, daß wir unsere Visite abgestattet haben.“

Der Referendar lachte. „Sie wollen, daß wir als wohlerzogene Europäer auch in dieser Kunsteinsiedelei keine Regel des gesellschaftlichen Anstandes unbeachtet lassen. Ja – ein Fremdenbuch liegt nicht aus; ich würde mit Vergnügen einen Namen eintragen, von dem noch Niemand weiß, ob er nicht einmal hochberühmt werden wird.“

„Sie haben doch eine Visitenkarte bei sich?“

„Ich –? Nein, wahrhaftig nicht. Zu Hause im Frack–“

Irmgard sah ihn ein wenig über die Achsel an. „Aber ich,“ betonte sie scharf im Gefühl ihrer Ueberlegenheit. „Ich weiß nur nicht, ob es sich schicken würde …“

„Aber warum sollte sich’s nicht schicken, höflich zu sein? Das ist ein sehr guter Gedanke! Kneifen Sie ohne Bedenken die vorschriftsmäßige Ecke Ihres Kärtchens ein und deponiren Sie dasselbe in diesem Cigarrenkasten, der zur Aufnahme von dergleichen Artigkeiten bestimmt zu sein scheint!“ Er zog sein Taschenbuch hervor, schrieb etwas hinein und riß die Seite aus. „Ich finde mich auf diese Weise mit meinen gesellschaftlichen Pflichten ab.“

„Das könnte genügen,“ wendete die junge Dame ein, das gestickte Täschchen mit den Visitenkarten unentschlossen in der Hand hin- und herwendend.

„Nein, das gilt nicht,“ rief der Referendar. „Ziehen Sie sich nicht zurück! Wir haben dieses kleine Abenteuer nun einmal gemeinsam bestanden und müssen nun auch gemeinsam aus diesem Cigarrenkasten heraus unsere Aufwartung machen.“

„Wer weiß, was er sich dabei denkt …“

„Ja – wenn Sie nicht den Muth haben, ihn denken zu lassen, was er will –“

„Ah! den Muth –?“ Sie zog die Schultern auf „Gut! ich thu’s.“ Sie warf das Kärtchen zu seiner Bleifederschrift.

Die Herren klatschten Beifall. Es schallte laut in dem großen, langen Gemache, von dem eben die letzten Strahlen der Sonne schieden. Irmgard sah sich scheu um und schritt nach der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_003.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)