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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Gebunden.
Erzählung von Ernst Wichert.
(Fortsetzung.)

Werner schien entschlossen und rief den Knaben herein, der mit dem Enkel der alten Ursel gespielt hatte. Aber es dauerte diesmal sehr lange, bis er die Sachen zusammenfand, und endlich, als der Junge schon bepackt war, nahm er sie ihm doch wieder ab und sagte: „Laß es für heute! Mir ist nicht ganz wohl. Komm’ morgen um diese Zeit wieder! Das für Deine Mühe!“ Er warf ihm ein Geldstück zu, so groß wie es der arme Bursche noch selten in der Hand gehabt hatte.

Es zog ihn doch hinab zur Stadt, sich Gewißheit zu verschaffen. „Ist Elise, ist Frau von der Wehr wirklich in der Nähe,“ monologisirte er nun aus einer anderen Tonart, „und war ihre Tochter hier in meinem Hause, warum ihnen feige aus dem Wege gehen? Nach so langen Jahren, unter so veränderten Umständen – wir werden einander sehr ruhig und gesetzt begegnen. Die gnädige Frau belächelt wahrscheinlich lange schon die Verirrung ihres kindischen Herzens, wenn sie überhaupt noch daran denkt. Ich habe sie nicht ausgesucht, aber wenn es sein soll – ich hätte den Muth, sie zu sehen. Neben dem Herrn Gemahl … gut! Auch das – um so besser! Am Ende ist doch eine Visite der anderen werth. Eine Visite – was weiter?“

Er machte zu steigender Verwunderung der alten Haushälterin sorgfältige Toilette und sagte, er wollte zur Stadt. So etwas mochte seit langer Zeit nicht passirt sein.

Werner lief mehr, als er ging. Der innere Zwang wurde so mächtig in ihm, daß er jeden weiteren Versuch einer Rechtfertigung vor sich selbst aufgab. Als er zum See hinabkam, fuhr in einiger Entfernung das Dampfboot vorüber. Er warf nur einen flüchtigen Blick darauf und eilte am Flusse hin nach der Stadt. Er erkundigte sich im Fremdenbureau nach Gästen des Namens von der Wehr. Es wurde ihm eine Pension genannt. In dem alleingelegenen Hause, an das sich ein schattiger Garten anschloß, antwortete man ihm: „Die Damen bewohnen die obere Etage, sind aber augenblicklich im Pavillon.“

Er war am Ziel.

Mit klopfendem Herzen durchschritt er den Laubgang. Die Glasthüren des Pavillons standen offen. Es saßen in demselben zwei schwarzgekleidete Damen. Die eine zeichnete und hielt dabei den Kopf über das Blatt gebeugt; die andere hatte eine Stickerei unter den Händen. Wie der Fremde sich mit immer rascheren Schritten näherte, blickte diese auf, erst flüchtig, dann plötzlich gespannt aufmerksam. Die Stickerei fiel ihr in den Schooß; sie erhob sich, trat schnell bis zur Schwelle und streckte dem Heraneilenden die Hände entgegen. „Max Werner!“

„Elise!“ Er ergriff ihre Hände und küßte sie stürmisch. „Sind Sie es, sind Sie es wirklich? O, daß ich diesen Tag erlebe!“

Irmgard hatte erschreckt aufgeschaut. Ein fremder Mann mit einem wilden Barte – und ihre Mutter empfing ihn so sonderbar erregt – und er erlaubte sich gar, sie beim Vornamen zu rufen? Frau von der Wehr schien wirklich die gewohnte Haltung ganz verloren zu haben. Ihr sonst so bleiches Gesicht war wie mit Purpur übergossen. Thränen standen ihr in den Augen, und sie mußte sich vor Rührung abwenden, als der Gast, selbst kaum eines Wortes mächtig, zitternd die Frage an sie richtete: „Darf ich denn wirklich eintreten – finde ich noch …“

Jetzt bemerkte sie die Unruhe, die sich ihrer Tochter bemächtigt hatte. Sie suchte sich gewaltsam zu fassen, winkte ihr zu und sagte: „Ein lieber Freund Deiner Mutter, Irmgard – einst ihr Lehrer – Herr Max Werner, Maler.“

Irmgard erinnerte sich nicht, den Namen schon gehört zu haben. Sie stand auf, verneigte sich kühl und klappte ihre Mappe zu, als fürchtete sie, er könnte bei seiner Dreistigkeit gleich eine Besichtigung ihrer Zeichnungen vornehmen wollen. Er aber betrachtete den aschblonden Kopf aufmerksam und hielt ihr die Hand hin. „Sie hätte ich kaum irgendwo verkennen können, mein Fräulein, die Aehnlichkeit mit Ihrem Herrn Vater ist erstaunlich,“ bemerkte er.

Irmgard sah nicht auf und wickelte die Bänder der Mappe um den Finger. In die dargebotene Hand schlug sie nicht ein.

„Aber wie erfuhren Sie,“ nahm die Mutter ablenkend das Wort, „daß wir –“

Der Maler nickte lächelnd, hielt aber den Blick auf Irmgard gerichtet. „Diese junge Dame thut, als ob ich ihr ganz fremd wäre,“ scherzte er, „und doch hat sie mir die erste Visite abgestattet, wofür ich ihr nicht genug dankbar sein kann.“

Irmgard schrak zusammen. „Ich, mein Herr?“

„Sie! Wenn Sie wirklich Irmgard von der Wehr heißen und wenn dies …“ er griff in die Brusttasche, „wenn dies Ihre Karte ist. Hoffentlich entgeht mir nun auch die Bekanntschaft Ihres Begleiters, des Referendars Hell, nicht, den ich mir als einen sehr liebenswürdigen jungen Mann vorstelle.“

Irmgard drückte die kleinen Zähne in die Unterlippe und maß ihn mit einem kriegerischen Blick. „Meine Karte – allerdings … es war sehr unbesonnen,“ stammelte sie, die Farbe wechselnd. „Sie also wohnen –“

„In dem stillen Hause oben auf dem Berge, das Sie gestern

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_021.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)