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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Gebunden.
Erzählung von Ernst Wichert.
(Fortsetzung.)


5.

Ein Jahr war vergangen.

Wieder neigte sich die Julisonne um dem klaren blauen Himmel dem nordwestlichen Horizonte zu, aber sie beschien diesmal ein ganz anderes Landschaftsbild. Nichts von hochaufstrebenden Gebirgsmassen, tiefen Flußthälern mit freundlichen Ortschaften, hellen Seen und eiszackigen Fernen – ringsum ebenes Land, Feld, Haide, Wald, für den Wanderer eine weite Aussicht, von Zeit zu Zeit abschließend mit einem schmalen blauen Streifen Wasser, der die Ostsee bedeutet. Wir befanden uns im ostpreußischen Samlande, jenem Viereck, das sich so augenfällig in’s Meer hinauslegt und von den beiden Nehrungen wie von zwei Bändern gehalten zu werden scheint, damit es nicht von der Landkarte herunterfalle. Wer sonst nichts von ihm weiß, hat doch gehört, daß an seiner Küste der edle Bernstein gewonnen wird, und so mag es ihm gefallen, sich auch einmal mit seiner landschaftlichen Natur bekannt zu machen.

Der Stellwagen von Königsberg hatte längst schon den letzten „Berg“ hinter dem anmuthig gelegenem Kirchdorf Pobethen überwunden und schleppte sich nun durch den tiefen Sand der Landstraße dem Dorfe Rantau zu, das von der Nordküste nur noch eine viertel Meile entfernt liegt. Es hatte in Wochen nicht geregnet; die Räder wühlten sich tief ein, und die müden Pferde schleiften langsam, Schritt für Schritt, die Hufe über den Boden hin, eine dichte Staubwolke um sich herum aufwirbelnd. Die acht das grüne Leinwanddach tragenden Stangen schüttelten sich knarrend; der Sand glitt surrend über die Räder hin, und die Gesellschaft auf dem Wagen schien schläfrig geworden; nicht einmal die Peitsche des Kutschers wollte kräftig knallen: man mußte sich in sein Schicksal ergeben und mit der Hoffnung trösten, daß man sich in dem nicht fernen Seebade-Orte Neu-Kuhren noch diesen Abend von allen Strapazen der staubigen Fahrt erholen werde.

Der junge Mann, der den Eckplatz vorn besetzt hatte, schien nicht so geduldig zu sein. „Ich halt’s nicht länger aus,“ rief er seinem Nachbar zu, der sich krampfhaft bemühte, eine Cigarre in Brand zu halten. „Dieser Staub – man kaut ihn förmlich zwischen den Zähnen. Und ich wette darauf – zwanzig Schritte weiter haben wir die frischeste Seeluft. Wollen Sie gütigst mein geringes Gepäck ein wenig in Ihre Obhut nehmen? Ich mache Ihnen Raum.“ Ohne den Wagen halten zu lassen, schwang er sich um die Verdeckstange und sprang mit einem geschickten Satz ab. Im eigentlichsten Sinne des Wortes machte er sich dann sofort aus dem Staube, indem er über den trockenen Seitengraben setzte und jenseits der kümmerlichen Weidenstümpfe auf dem festeren Fußpfade munter ausschritt. „Ah, hier lebt man auf,“ versicherte er.

„Wissen Sie, daß ich gute Lust hätte, Ihnen zu folgen?“ sagte der Raucher.

„So springen Sie doch ab!“

„Ganz gut! Aber wer beaufsichtigt Ihr Gepäck, das Sie so freundlich waren mir anzuvertrauen?“

„Legen Sie die Rolle lang auf’s Gesäß! – sie wird nicht hinabgleiten – und die Ledertasche unter dasselbe! Es thut nichts, wenn sie einige Fußtritte erhält.“

„Und meine eigenen Sachen?“

Eine mitleidige Dame, die schon diverse Schachteln und Päckchen auf dem Schooße hielt, erbot sich zu der „kleinen Gefälligkeit“, darauf zu achten, daß nichts hinausfalle. Sie speculirte vielleicht auf den leer werdenden Raum.

„Nun denn ohne Zögern,“ rief der Herr, die Cigarre kräftig anpaffend, und sprang über Bord.

Nun ihn die Staubwolke nicht mehr verschleiert, müssen wir uns erinnern, das Gesicht mit dem blonden Bärtchen und den munteren Augen schon einmal gesehen zu haben. Richtig! Es ist der Referendar Hell, der in diesem Jahr sehr bescheiden seine Ferien am heimischen Seestrande zuzubringen gedenkt. Die Bekanntschaft des Herrn, der zuerst abgestiegen war, hatte er erst während der Fahrt gemacht. Beim Anblick der Hügel, die man etwas kühn die samländische Schweiz nennt, hatte sich die Erinnerung an die vorjährige Reise in einigen articulirten Seufzern entladen. Sein Gefährte zeigte sich an dem Alpenlande sehr bewandert – er hätte einen Onkel dort, sagte er – und so war man bald in ein lebhaftes Gespräch gekommen, ohne auf eine gegenseitige Vorstellung zu warten.

„Ich bin an den Actenstaub bereits ziemlich gewöhnt,“ versicherte der Referendar, nun wieder Seite an Seite mit dem Fremden, „aber was hier in der Luft herumwirbelt, fällt selbst einem Juristen zu schwer auf die Lunge.“ Er räusperte sich. „Rauchen Sie eine Cigarre?“

Der Andere dankte. „Ich schlage Ihnen vor,“ sagte er, „hier links abzubiegen. Am Ende dieser breiten Viehtrift muß ein Richtsteig um das Dorf herumführen. Wir verlieren dann den abscheulichen Marterkasten von Wagen ganz aus den Augen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_059.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)