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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Der Greis schwieg. Er trug eine schwere Rolle in der Hand, die er in die des Pfarrers legen wollte.

Diesem waren Thränen in die Augen getreten; ein leises Zittern durchschauerte ihn – er zog die Hand zurück.

„Nein, nein!“

„Es kommt aus gutem Herzen,“ wiederholte der alte Bauer. „Nehmen Sie es, Herr Pfarrer! Sie haben es hundertfach an uns verdient, und können es in der schweren Zeit gebrauchen, die über Sie hereingebrochen ist.“

Der Pfarrer nahm die Rolle, und der Bauer zog sich zurück, um keine Worte des Dankes zu empfangen und Anderen Platz zu machen, den Frauen. Die Frauen stellten sich in einem Kreise um die Kinder des Pfarrers auf, und Jede überreichte dann jedem einzelnen Kinde eine Gabe, feine Leinewand für Regine, Taschentücher für Johannes, Zeug zu einem Sommeranzuge für den kleinen Knaben, zu Kleidchen für das kleine Mädchen, für Beide Aepfel und Nüsse, die sie noch aus dem Winter aufbewahrt hatten. „Es kommt aus gutem Herzen,“ sagten auch sie dabei, und die Kinder weinten vor Rührung – die Frauen mußten mit ihnen weinen.

„Nun aber fort!“ sagte zu seiner Begleitung der Greis. „Der Herr Pfarrer wird noch einen weiten Weg haben, und der Abend ist nahe.“

Sie nahmen Abschied.

„Nicht für immer, Herr Pfarrer,“ sagte der alte Mann. „So Gott will, nur für kurze Zeit! Aber sollte es auch lange dauern, ehe Sie wieder kommen, Sie wissen immer, wo wir zu finden sind – unser Pfarrer soll niemals Noth leiden.“

Der Greis schüttelte dem Pfarrer die Hand und wandte sich, um mit seiner Begleitung in’s Dorf zurückzukehren. Da gewahrte er den Bauernadvocaten, der zur Seite getreten war. Seine Züge verfinsterten sich und nahmen den Ausdruck der Verachtung an.

„Du elender Bursch!“ rief er ihm zu und machte einen Schritt ihm entgegen. „Du warst Zeuge, wie ein braver Mann geachtet und geehrt wird. An Dir selbst wirst Du erleben, wie man mit Schurken und Bösewichtern umgeht. Ich würde mich nicht wundern, wenn ich von Dir hörte, daß man Dich an einem Baume aufgeknüpft hat. – Gehen wir jetzt, Ihr Leute, zu unserm armen Dorfe zurück!“

Still kehrten die Bauersleute zurück. Still zog der Pfarrer mit seinen Kindern weiter. Aber zu ihm hatte sich bald wieder Georg Hausmann gesellt.

„Herr Pfarrer, die Landstraße ist frei,“ begann der abscheuliche Mensch mit seiner ganzen Frechheit und Widerwärtigkeit, „sie ist frei für Jedermann, für Sünder und Gerechte, auch für solche, die sich zu den Gerechten zählen. Indessen, Sie sollen in Frieden ziehen. Nur für Ihre Mamsell Tochter habe ich noch ein paar Worte, etwas Apartes, wie ich schon sagte. Hören Sie mir jetzt zu, Mamsellchen! Der Rittmeister, der schöne, tapfere, vornehme Freiherr Ottokar, war da oben angekommen, und seine schöne Schwägerin hatte sich ihn wohl expreß verschrieben – zum Schutze für das Schloß natürlich. Er kam auch sogleich, aber nicht gleich mit seinen Husaren; denn die Dame hatte wohl noch zuerst allein mit ihm zu sprechen. Frauen haben oft Geheimnisse, und ehe ihn seine Husaren nachkommen konnten, waren unsere Bauern am Schlosse, und es kam zum Schießen zwischen den Bauern und den Schloßleuten; der Herr Rittmeister meinte als vornehmer Herr, wenn er sich dem Bauernpack nur zeige, so werde Alles vor ihm davon laufen. Er hatte aber die Rechnung ohne den Wirth gemacht. Die braven Bauern hielten Stand, und in dem Hin- und Herschießen fiel eine Kugel, die nun Rittmeister und Freiherren, um zärtliche Edelfrauen und Pfarrerstöchter sich nicht genirte. Sie war gut gezielt auf den tapferen Freiherrn, und – leben Sie wohl, Mamsellchen!“

Der Bauernadvocat war damit unter den Bäumen des Wäldchens verschwunden, dessen Ende sie gerade erreicht hatten. Der Pfarrer mußte seine Tochter stützen, die umzusinken drohte.


5. Im Friedenthal.

Unter den Bäumen des Waldes war es schon dunkel; ihre Kronen leuchteten noch im Sonnenglanze. Auch auf der Landstraße, die durch den Wald führte, verflochten die Zweige sich zu einem schützenden Laubdache, schützend gegen den Sonnenschein am hellen Tage, schützend gegen Regen und Schnee, wenn der Himmel mit dunkeln Wolken oder der unendlichen grauen Schneedecke behangen war. Immer tiefer und tiefer kam man unter dem dichten Laubdache in den Wald hinein; immer stiller wurde es rings umher. Kein Laut wurde aus der Ferne, wurde in der Nähe vernommen; kein Rufen oder Zwitschern eines Vogels in den Bäumen; kein Schleichen einer Eidechse aus dem Moose des Bodens. Hörte denn die Welt hier auf?

Der Weg machte eine jähe Biegung und setzte sich dann, breiter werdend, nach rechts in fast schnurgerader Richtung fort. Die Kronen der Bäume zu beiden Seiten verzweigten sich oben nicht mehr, denn die Stämme standen von einander zu weit entfernt. Ueber sich sah man den blauen Himmel, neben sich hohe, steil ansteigende Bergwände: der Weg führte in ein schmales Thal hinein, in dem dieselbe Stille herrschte, die den Wald umfangen hatte. Sie erschien traulicher, heimlicher zwischen den sich fast berührenden Bergwänden als unter den Bäumen des Waldes, dessen Ende das Auge nicht gewahren konnte. Das Thal weitete sich nach einiger Zeit, aber nur allmählich; der Waldcharakter verschwand, und der Weg lief zwischen Wiesengründen hin. Irgend eine Cultur des Bodens durch thätige, schaffende oder nachhelfende Menschenhand war nicht wahrzunehmen, aber plötzlich änderte sich auch das. Ein kleiner Waldbach, der zwischen Gesträuch, Moos und Gestein dem Auge sich verborgen hatte, trat jetzt näher an den Weg heran und durchschnitt ihn quer. Eine kleine Brücke führte über ihn, und jenseits derselben befand man sich in einem Garten mit den schönsten Spalieren, Gruppen von Obstbäumen. Blumenbeeten, Bosquets, Wiesenland und sich schlängelnden Pfaden. Ein Landhaus zeigte in einer Entfernung von kaum zwanzig Schritten seine weiße Façade. Es war einfach gebaut, und über seinen hohen Parterre erhob sich nur ein Stockwerk; es hatte an der Fronte nur drei Fenster. Aber es war frisch und sauber, seine Verhältnisse harmonisch, seine ganze Erscheinung freundlich und anspruchslos; so lag es in ruhiger, friedlicher Abendstille, und die untergehende Sonne goß ihre goldenen Strahlen mild darüber aus.

Welch ein wunderbar schöner Platz zum Ausruhen von den Mühseligkeiten des Lebens in dieser Einsamkeit, in dieser Abgeschiedenheit von der Welt und ihrem Getümmel, ihrem Treiben und ihren Kämpfen! Auch zum Ausruhen für immer, zum Sterben?

Zwei Menschen, die an dem Abend des Tages, von dem wir erzählen, die kleine Brücke hinter sich hatten, an den Spalieren, Bäumen und Beeten vorübergekommen waren und nun aus dem letzten Bosquet hervortraten, sie richteten wohl die Frage nicht an einander, aber jeder an das eigene bange, beklommene Herz.

Der Besitzer des freundlichen, einsamen Landhauses war ein alter Herr; er schien ein Sechsziger zu sein, aber man wußte, daß er schon in der zweiten Hälfte seiner siebenziger Jahre stehe. Er war klein, sehr klein, dürr und verwachsen; der Kopf steckte zwischen den erhöhten Schaltern und lehnte sich hinten an einen Höcker. Aber dieser Kopf war der schönste Kopf eines Greises, den man sehen konnte; er zeigte ein feines Oval; die etwas zurückliegende Stirn war hoch, die Nase ein wenig gebogen. Stirn und Nase in solcher Harmonie bekunden den durchdringenden Verstand, den sicheren, festen Mannesmuth: der erste Napoleon sah bei seinen Generalen darauf. Die Lippen des kleinen alten Herrn waren schmal in seinen alten Tagen, aber sie bezeugten noch heute in ihrer Feinheit den guten Geschmack des Mannes, der wohl zu leben weiß, des Geistes, der bei ernsten Denken den Scherz liebt, Satire und Witz übt, oft auch derben und paradoxen. Gutmüthigkeit zeigten die großen, dunkelblauen, klugen Augen. Die Kleidung des alten Herrn war eine gewählte, die Wäsche glänzend weiß; weiß waren auch die Weste, die Halsbinde, die Hemdskrause, die Manschetten, die bis zu den Wurzeln der langen schmalen Finger hinunterhingen; hellgraue Beinkleider und ein gleicher Hausrock vollendeten den Anzug. Das Haupt war mit einem Käppchen von schwarzem Sammt bedeckt, unter dem wenige schneeweiße Haare hervorschauten.

So lag der kleine alte Herr unter einer Veranda an der Rückseite des Landhauses auf einem Sopha ausgestreckt, behaglich die letzten Strahlen der Abendsonne auf den Spitzen der Berge verfolgend, blaue Wölkchen aus seiner feinduftenden Cigarre zum Himmel hinaus sendend und mit den Augen sie verfolgend.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_105.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)