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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


Noch einmal wollte in ihr die Leidenschaft aufflammen.

„Ich bleibe hier. Hier ist mein Platz. Ich will, ich muß mit ihm sterben.“

„Unglückliche!“ sagte der Arzt.

Aber ihre Kraft war gebrochen, plötzlich, nach allen den Aufregungen des Tages. Sie war in ihren Stuhl zurückgesunken.

„Gehen wir!“ bat der Doctor nach einigen Augenblicken und nahm ihre Hand.

Sie erhob sich und folgte ihm wie ein müdes Kind. Er führte sie in ihr Gemach und schickte ihre Kammerfrau zu ihr. Seiner wartete schon eine andere Liebespflicht.

Die Dunkelheit des Abends war eingetreten, mit ihr hatte tiefe Stille sich über das Thal ausgebreitet, über Berg und Wald umher. Durch Dunkel und Stille drangen sonderbare Töne zu dem Landhause herüber; sie kamen näher und näher. Der alte Thomas, der draußen stand, hatte sie zuerst vernommen.

„Ein Wagen?“ fragte er sich. „Aber die Räder knarren so besonders. Und es kommt so langsam heran. Und doch!“ Er horchte verwundert und blickte erwartungsvoll in das Dunkel unter den Bäumen, aus dem das Erwartete zum Vorschein kommen mußte.

„In der That ein Wagen! Und welche Ladung trägt er denn? Nur ein Pferd zieht ihn, und vier – nein fünf Menschen bei ihm! Kleine Kinder? Was wird uns da gebracht?“

Er wollte in’s Haus eilen und seinem Herrn ankündigen, was er gehört und gesehen hatte, welcher neue, unbekannte Besuch dem Landhause bevorstehe. Der Doctor war schon in der Hausthür erschienen. Auch er hatte unbestimmt das Nahen eines Wagens gehört, und als er draußen es deutlicher vernahm, wußte er, wer es war, der da kam.

„Ja, ja,“ sagte er nur für sich.

Dann ging er dem Gefährt und den Menschen, die es begleiteten, entgegen.

„Armer Freund, auch Sie! Aber wir sind ja – rasch genug – in eine Zeit eingetreten, in welcher alles Gute und Edle verfolgt wird und die Gemeinheit und Niederträchtigkeit triumphirt. Seien Sie mir willkommen mit Kind und Kegel, mit Sack und Pack!“

Er schüttelte dem Pfarrer die Hand und drückte sie jedem der Kinder; als er sie Reginen drückte, durchrieselte diese ein Schauer. Durch die Dunkelheit traf sie ein Stechen seiner Augen, vor dem sie die ihrigen niederschlagen mußte. Ruhig sprach er dann weiter, indem sie dem Hause sich näherten.

„Und meinen besten Dank nehmen Sie, daß Sie gleich an mich dachten, den alten Freund! Ich wäre, wenn die Bauern mich von hier vertrieben hätten, nur zu Ihnen gekommen. Und noch einen anderen Grund des Dankes habe ich: Sie bringen wieder das Leben in das Haus des Todes.“

Der Pfarrer blickte ihn fragend an.

„Ja,“ erhielt er zur Antwort, und sie war nicht allein an ihn gerichtet. „Ja, der arme Ottokar von Waltershausen – seine Schwägerin brachte ihn hierher – er wurde vor wenigen Minuten von seinen Schmerzen erlöst.“

„Der Rittmeister –?“ rief der Pfarrer.

Er erhielt keine Antwort; denn der Doctor sah Regine wanken und war schnell an ihrer Seite; er stützte sie.

„Ja, Regine,“ sagte er, zu dem Mädchen gewandt, das er hatte aufwachsen sehen wie die übrigen Kinder des Pfarrers, und für das er daher noch immer ein vertrauliches Du hatte, „Du kommst zu einer Leiche. Und Du kannst mit einer Unglücklichen, mit einer anderen Unglücklichen,“ verbesserte er sich, „an das Todtenlager treten –“

Es waren wohl seltsame Worte, und noch mehr mußte der Ton auffallen, mit dem er sie gesprochen hatte. Nur die Baronin hatte er zuerst eine Unglückliche genannt. War sie, Regine, denn nicht auch eine solche? Sie zuckte an seinem Arme heftig zusammen; erst da nannte er auch sie so. Und dann gab er der Regung seines guten Herzens noch mehr Folge.

„Regine,“ fuhr er so leise zu ihr fort, daß nur sie es hören konnte, „Du mußtest einmal die Wahrheit von mir hören. Es ist geschehen. Ich bin fortan nur noch Dein verzeihender Freund.“

Sie hatten das Haus erreicht.

„Seid mir Alle willkommen!“ drückte der Doctor ihnen noch einmal die Hände.

Dem alten Thomas befahl er dann, den Wagen abzupacken und für die Sachen und das Pferd zu sorgen. Margarethe mußte der kleinere Kinder sich annehmen, er selbst aber hatte zunächst noch die andere Unglückliche aufgesucht. Er fand die Baronin, sie, die an Dulden und Entsagen gewöhnt war, gefaßt. Er durfte ihr mittheilen, wer angekommen.

Es durchzuckte sie. „Regine!“

„Sie ist auch eine Unglückliche,“ sagte der Doctor, „und –“

Er brach ab, ging ein paar Mal im Zimmer auf und ab und trat entschlossen wieder zu der Baronin.

„Ja, meine liebe Frau Baronin, es sind Unterschiede zwischen Ihnen und Jener. Lassen Sie mich hier von allen nur einen hervorheben! Sie haben gebüßt; denn ganz ohne Schuld waren auch Sie nicht. Regine muß noch büßen, mehr als Sie; sie trägt an einer schwereren Schuld. Erleichtern Sie es ihr, durch eine freundliche Verzeihung dessen, was sie gegen Sie verbrach!“

„Führen Sie mich zu ihr!“ sagte die Baronin, indem sie sich erhob.

„Ich bringe sie zu Ihnen.“

Er ging zu Regine zurück.

„Begleitest Du mich zu der Baronin?“

Sie erschrak.

„Ihr sollt Freundinnen werden.“

Sie folgte ihm. Die beiden Frauenherzen weinten bitterlich mit einander, und die Thränen hatten einen festen Freundschaftsbund eingeweiht. –

Der Friede der Herzen, die Ruhe des Todes sollte in dem Friedenthal noch einmal gestört werden. Der Bauernaufruhr in Waltershausen war schnell niedergeworfen worden. Pferde sprengten in das Thal; Waffen klirrten; laute Rufe ertönten. Alles war auf den Fersen eines gehetzten Menschen, der um sein Leben lief. Ein Schuß fiel; der Mensch sank mit einem dumpfen Schrei zusammen. Der Bauernadvocat, von den Husaren verfolgt, war tödtlich getroffen worden.

Von Emil Brunn hat man niemals wieder etwas gehört. Ob er beim Bauernaufruhre gefallen oder entflohen – man weiß es nicht.



Blätter und Blüthen.

In doppelter Gefangenschaft. (Mit Abbildung Seite 121.) Die Durchzüge der türkischen Gefangenen von Plewna durch Bukarest bringen, neben dem gestaltenvollen Bilderreichthum, mit welchem sie die Straßen beleben, auch manches Geschichtchen an den Tag, welches in dieser harten Zeit vom besten Theil des Menschen unter allen Himmeln zeugt. Arm in Arm mit dem Maler G., der sich nicht zu den eigentlichen „Feldmalern“ rechnet, sondern hier Menschenstudien auf eigene Faust treibt, ging ich häufig auf den Türkenfang aus, und wir machten, da unsere Augen gelernt hatten, auch in Schmutz und Kleiderfetzen die im Elend der Gefangenschaft Herangekommenen von den von Haus aus Gemeinen zu unterscheiden, manchen guten Fang, der beste aber war der, dessen Erzählung mein Maler, wie Figura zeigt, mit seinem Griffel gefolgt ist.

Wir flanirten auf dem Corso (der sogenannten „Chaussée“) nach der Straße Mogoschoi hin, als wir einem Trüppchen von sechs Türken begegneten, das ein rumänischer Soldat begleitete und dem ein Mann folgte, in welchem G. durchaus keinen Türken, sondern einen Bulgaren erkennen wollte. Von den Türken gehörten Drei augenscheinlich zur besseren Sorte, und sofort nahmen wir, mit einigen Geldstücken winkend, die ganze Gesellschaft in Beschlag. Das Glück war uns günstig. Unter den Türken war Einer, der gerade so viel Französisch radebrechte, wie G. vom Osmanli-Türkischen verstand, und so erfuhren wir, daß Ebenderselbe ein letztes Kleinod, eine Uhr, die er, in einem Tuchfetzen eingewickelt, in der Hand trug, veräußern wollte, um ihren großen Hunger zu stillen. Mit einem Blick gegenseitig verständigt, versprach G., ihnen ihren Wunsch ohne die Uhr zu erfüllen, und so zogen wir mit ihnen in eines der Speisehäuser ein, an welchen hier kein Mangel ist.

Hier fiel es uns sofort auf, daß der „Bulgare“ nur für Einen der Türken, und gerade unsern Sprecher, Augen zu haben schien, denn erst auf dessen Wink nahm auch er von den dargereichten Speisen und Getränken. G. konnte nun nicht umhin, zu fragen, ob es den Gefangenen gestattet sei, auch ihre Diener mit sich zu nehmen, und wies dabei auf den noch immer respectvoll bei Seite stehenden Mann hin.

Da sprach der Türke: „Nein, Herr. Den Mann hat Allah mir zum Bruder gegeben, und er geht freiwillig mit mir in die Gefangenschaft,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_124.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)