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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


der herrlichen Arnostadt[WS 1] erinnernd, schleichen trübseligen Blickes von Tisch zu Tisch, und es gelingt ihnen nur selten, von ihrer duftenden Waare etwas abzusetzen; denn der Münchener liebt mehr das Substantielle.

Durch das Hofgartenthor aber rasselt, einen Piqueur vorauf, eine vierspännige geschlossene Karosse, aus deren Fenster eine imposante Gestalt dankend grüßt: es ist König Ludwig, der seine Spazierfahrt durch den Englischen Garten macht.


Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.

Von C. Michael.
17.0 Was heißt liebenswürdig?

Was heißt liebenswürdig?

Nichts scheint einfacher als die Beantwortung dieser Frage.

„Liebenswürdig“ heißt: würdig sein, geliebt zu werden, sollte man meinen. Aber der Sprachgebrauch ist gar wunderlich in seinen Launen; er versteht unter seinen Ausdrücken oft mehr, oft weniger, häufig sogar das Gegentheil von dem, was sie besagen. Ist nicht z. B. ein „alter“ Herr noch älter als ein „älterer“? eine „junge“ Dame noch jünger als eine „jüngere“ Dame? Die Steigerung des Ausdruckes drückt hier geradezu eine Verminderung der Eigenschaft aus. Und fragen wir: „Ist nur eine liebenswürdige Person würdig, geliebt zu werden?“, so wird ein vielstimmiges „Nein“ die Antwort sein.

Wer denkt nicht an die strengen eisenharten Feldherren alter und neuer Zeit; nicht einen Schatten von dem, was man „liebenswürdig“ nennt, haben sie zumeist besessen, und doch sind ihre Krieger aus begeisterter Liebe ihnen gefolgt in Schlacht und Tod – sie waren gewiß „würdig“ „geliebt“ zu werden.

Wie leidenschaftlich wird oft eine kalte, stolze Schöne geliebt von ihrem Verehrer, wie innig und aufopfernd dort ein launischer griesgrämiger Alter von seinen Kindern, hier ein kränklicher tief verstimmter Gatte von der Gattin, ein strenger ernster Gelehrter von seinen Schülern und Anhängern! Sie Alle sind der Liebe würdig, die man ihnen weiht, wenn sie auch gänzlich jener „Liebenswürdigkeit“ entbehren, die unser Sprachgebrauch diesem Wort beilegt. Wir müssen also vor Allem bekennen, daß der Ausdruck „Liebenswürdig“ viel zu hoch gegriffen ist für das, was wir darunter verstehen. Die Franzosen legen nicht so viel in ihr „aimable“, die Engländer in ihr „lovely“, sie bezeichnen mit diesen Worten präciser die Eigenschaften, die wir fälschlich liebens–würdig nennen, während wir damit nur die Begriffe: lieblich, freundlich, zuvorkommend in einem Worte zusammenfassen wollen, und dieses Wort vielleicht richtiger „gewinnend“ oder „einnehmend“ heißen müßte.

Der Ausdruck: „Liebenswürdig“ ist nun aber einmal da; er ist zu Fleisch und Blut geworden im Empfinden der Deutschen, und man muß ihn so beibehalten, wie der Sprachgebrauch ihn eingebürgert hat. Mit Vorliebe wenden wir das Wort auf unser weibliches Geschlecht an; dem Mann wird das Prädicat „liebenswürdig“ nur so nebenbei gegeben, während es vielleicht als die schönste und ehrendste Auszeichnung der Frau, insonderheit der weiblichen Jugend, gilt.

Worin aber nun diese vielgepriesene, mächtig bestrickende Eigenschaft unseres Geschlechtes besteht, das zu ergründen ist nicht so leicht. Die Liebenswürdigkeit kann mit Schönheit, oder mindestens mit Anmuth gepaart sein, doch kann sie unter Umständen auch recht gut diese Verbindung entbehren.

Auch eine alte und häßliche Frau kann sehr liebenswürdig sein, ja häufig hört man geradezu die Gegensätzlichkeit beider Begriffe betonen: „Sie ist nicht hübsch, aber sehr liebenswürdig.“ Die Schönheit also thut es nicht, thut’s vielleicht der Verstand, die Herzensgüte, thut’s feines gesellschaftliches Benehmen?

Mit einem Theilchen müssen unbedingt alle diese Eigenschaften vertreten sein, wenn es sich darum handelt, den Begriff der Liebenswürdigkeit zusammenzustellen; denn eine liebenswürdige Frau kann wohl häßlich, sie darf aber weder dumm, noch boshaft, noch plump und unbeholfen sein. –

Gut, da haben wir eine brave, verständige Hausfrau, die ihre Kinder stramm zur Ordnung anhält, Armen gern Gutes thut, wenn sie darum gebeten wird, und auch nicht der üblichen gesellschaftlichen Formen entbehrt. Es ist kein Tadel zu finden an ihr und ihrem Hause; Alles geht darin wie am Schnürchen; man hört kein böses, kaum ein lautes Wort, aber auch selten ein fröhliches Lachen. Bereits jahrelang verkehrst du auf freundschaftlichstem Fuße mit dieser Familie und stehst ihr doch heute genau so fremd gegenüber wie am ersten Tage der Bekanntschaft. Ein gewisses leises Frösteln kannst du nie los werden im Verkehr mit der Frau vom Hause, und obgleich die Conversation mit ihr nie in’s Stocken geräth, weißt du doch nicht zu sagen, wovon du mit ihr gesprochen hast, wenn du ihr Haus verläßt. Ihre Freunde werden diese Frau sehr hoch achten und schätzen, keinem aber wird es beikommen, sie für „liebenswürdig“ zu erklären; dazu fehlt ihr bei aller Güte und Vernunft noch ein unbestimmbares „Etwas“.

Ist dieses fehlende „Etwas“ vielleicht sprudelnder Witz? Ist es ein Funken von jenem tändelnden und doch stets schlagfertigen „esprit“ der Franzosen, für welche wir armen schwerfälligen Deutschen nicht einmal das bezeichnende Wort besitzen, geschweige denn die Gabe selbst? –

Möglich, daß dem so ist; dann wäre jenes geistsprühende, lebhafte, hochgebildete Fräulein, zu dessen Tischnachbar dich heute ein gütiges Geschick gemacht hat, das vollendete Bild der Liebenswürdigkeit. Vereint sie doch mit einem guten Theile jenes vielbewunderten „esprit“ sogar die vortheilhafteste äußere Erscheinung; sie strahlt gleich dem blendenden Sonnengestirn im vollen Bewußtsein ihrer körperlichen und geistigen Vorzüge.

Im Gespräch mit ihr mußt du sehr aus deiner Hut sein; es ist ein beständiges Raketenfeuer; jedes Wort, das diesen rosigen Lippen entquillt, ist entweder ein scharfer Hieb oder eine kleine Bosheit, und jeder Blick dieser strahlenden Augen spricht die stumme Frage aus:

„Bin ich nicht reizend?“

O gewiß! Reizend ist die Dame, pikant, interessant, Alles, was du willst, nur nicht – liebenswürdig. Diesen Eindruck hast du nie ihr gegenüber, während es, vielleicht dir selber unbewußt, auf deine Lippen tritt in Bezug auf jene andere Frau dort, bei welcher du doch – im einzelnen analysirend – kaum irgend eines der Elemente, aus denen sich die Liebenswürdigkeit zusammensetzen soll, in hervorragender Weise vertreten findest.

Diese andere Frau, bei welcher wir jetzt zusammen eintreten wollen, ist weder durch Geist noch durch Schönheit ausgezeichnet, auch nicht überreich mit Talenten begabt, und was ihren Charakter im Allgemeinen betrifft, so findet man gar nicht erst Zeit, darüber nachzugrübeln, von welcher Art er wohl sein möchte. Sie selbst hat dazu noch viel weniger Zeit gehabt; denn sie hat in jedem Augenblick ihres geschäftig thätigen Lebens so viel an Andere zu denken, daß sie noch nicht zum Studium ihres eigenen Selbst gekommen ist, obgleich das „Erkenne Dich selbst!“ uns von so vielen Moralisten als höchstes Ziel allen Strebens hingestellt wird. Auch jetzt, im Augenblick, wo sie uns begrüßt, hat sie nicht einmal einen flüchtigen Nebengedanken an sich selbst. Ihre ganze Seele ist nur von uns, von den eben eintretenden lieben Gästen erfüllt. Ob wir sie in der dringendsten Arbeit störten oder eben, zum Ausgehen gerüstet, an der Hausthür treffen, stets ist der Empfang, den sie uns bereitet, gleich freundlich, gleich unbefangen, gleich warm und herzlich. Ohne daran zu denken, welchen Eindruck wohl sie selbst oder ihr Haus machen wird, ist sie einzig darauf bedacht, daß wir, die Gäste, uns bei ihr wohl fühlen möchten.

Unbehaglich für uns aber wäre jede Art der Entschuldigung, die sie ausspräche, jede Verlegenheit, die sie zeigte; das fühlt die „liebenswürdige“ Frau genau, und gar genau ist ihr auch bekannt, welchen Platz ihrer Wohnung sie uns zum Ausruhen bieten muß, damit wir uns recht behaglich fühlen.

Einzig von diesem Wunsche beseelt, denkt sie nicht daran, uns in das beste Zimmer des Hauses zu nöthigen – sie führt uns in das behaglichste. Sie nimmt uns gegenüber Platz und läßt uns erzählen und berichten; sie hat ein warmes Wort der Theilnahme für jedes unserer Erlebnisse, während sie von sich selbst und ihren

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Arnostadt: die Stadt am Fluss Arno, gemeint ist Florenz
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 334. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_334.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2023)