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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

No. 2.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Frau mit den Karfunkelsteinen.

Roman von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Es war recht still geworden im Hofe. Tante Sophie und Bärbe hatten die letzten Wäschestücke von der Leine genommen und die hochgethürmten Korbwannen in’s Haus getragen; der Hausknecht war, nachdem er die Stallthür geschlossen, ausgegangen, um Besorgungen zu machen, und der kleine, stille Junge saß wieder auf der Bank und malte mit beneidenswerther Geduld seine gerühmten Buchstaben auf die Schiefertafel.

Margarete setzte sich neben ihn und faltete die kleinen, hageren, sonnenverbrannten Hände im Schoße; sie ließ die ewig unruhigen Füße baumeln und verfolgte mit ihren lebendigen, klugen Augen den Flug der Schwalben, wie sie über die Dächer herkamen und in scharfen Bogen die blauen Lüfte durchschnitten, um unter den weit hervorspringenden Fenstersimsen des gegenüberliegenden Seitenflügels zu verschwinden.

Inzwischen kam Bärbe mit dem Wischtuch; sie fuhr mit demselben über den Gartentisch, legte eine Kaffeeserviette auf und stellte das klirrende Tassenbrett hin; dann fing sie an, die Wäschleine aufzurollen. Von Zeit zu Zeit warf sie einen ärgerlichen Blick nach dem Kinde, das so ungenirt und angelegentlich seine Augen über die obere Fensterreihe des spukhaften Hauses hinwandern ließ; für die alte Köchin war das eine naseweise Herausforderung, die ihr einen gelinden Schauder über die Haut jagte.

„Bärbe, Bärbe, schnell, drehe Dich um! es ist Jemand drin!“ rief die Kleine plötzlich und zeigte mit dem ausgestreckten Finger direkt nach einem der Fenster in Frau Dorotheens ehemaliger Wochenstube, wobei sie von der Bank sprang. Unwillkürlich, als werde sie von einer fremden Macht herumgerissen, wandte Bärbe den Kopf nach der bezeichneten Stelle und ließ vor Schrecken den mächtig angeschwollenen Wäschleinenknäuel aus den Händen fallen. „Weiß Gott, der Vorhang wackelt!“ murmelte sie.

„Unsinn, Bärbe! Wenn er blos wackelte, so wäre das weiter gar nichts; das könnte auch vom Zugwind sein!“ sagte Margarete überlegen. „Nein, er war dort in der Mitte“ – sie zeigte abermals nach dem Fenster – „dort war er auseinander, und es hat Jemand herausgesehen; und das ist doch närrisch – es wohnt kein Mensch drin –“

„Um tausend Gotteswillen, Kind, wer wird denn immer mit dem Finger


Innsbruckerin. 0 Studienkopf von Jos. Büche.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 021. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_021.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2024)