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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

doch nebenher um den Puls, die Athmung, das Allgemeinbefinden und die Brechneigung des Patienten kümmern.

Gerade das Erbrechen ist bei Augenoperationen sehr störend, da, sobald dasselbe herannaht, schleunigst die Instrumente aus dem Auge entfernt, die Augen geschlossen und dann wieder von Neuem die Augenlidhalter eingeführt werden müssen. Selbst nach der Operation wird oft noch stundenlang der Kranke durch Uebelkeit, Erbrechen und Eingenommenheit des Kopfes belästigt.

Endlich aber ist es bei tiefer Chloroformnarkose (und eine oberflächliche nützt nichts, weil sie den Kranken nur aufregt, statt ihn zu beruhigen) unmöglich, sich von dem Erfolge der Operation sogleich in genügender Weise zu überzeugen. Nachdem z. B. der graue Staar (die trübe Krystalllinse) aus dem Auge herausgenommen worden, kann man bei dem Chloroformirten keine Sehproben machen, und für das psychische und physische Verhalten eines Staaroperirten in den ersten Tagen nach der Operation ist es von größtem Nutzen, wenn der Kranke sich selbst überzeugt hat, daß er unmittelbar nach der Operation bereits Finger und Gesichter der umstehenden Aerzte wahrgenommen, die Operation also befriedigend ausgefallen ist. Andererseits ist es nach Schieloperationen meist sehr wünschenswerth, die Bewegungen des Auges sofort zu kontrolliren und den momentanen Effekt des Schielschnitts zu beschränken oder zu vermehren, bevor man den Verband anlegt; diese wichtige sogenannte Dosirung des Schnitts ist aber bei chloroformirten Kindern selten ausführbar. Weckt man sie aus dem Chloroformschlafe, so sind sie noch halb betäubt oder werden wild, und mancher Schieloperirte hat den zu starken oder zu geringen Erfolg der Operation dieser mangelnden Kontrolle bei Chloroformirung zuzuschreiben.

Unter diesen Umständen war es begreiflicher Weise schon längst ein wahrer Herzenswunsch aller Augenoperateure, ein Mittel zu besitzen, welches das Auge allein empfindungslos machen könnte, ohne dabei das Bewußtsein, die Munterkeit und den Willen des Kranken zu lähmen.

Vor 10 Jahren hoffte man schon, der Lösung dieser Aufgabe näher gekommen zu sein. Damals hatte Oskar Liebreich, der ruhmreiche Entdecker des schlafbringenden Chlorals, einen neuen Körper hergestellt, das Croton-Chloralhydrat, welches nur den Kopf und das Gesicht unempfindlich machen sollte, ohne die anderen Körpertheile zu lähmen oder Puls und Athmung zu beeinflussen. Leider bewährte sich aber dieses Mittel nach den Versuchen von Weber in Darmstadt und von Emmert in Bern nicht.

Mit um so größerer Freude begrüßten dagegen vor wenigen Wochen die Augenärzte ein anderes Mittel, das Dr. Koller in Wien zuerst für die örtliche Anaesthesie, das heißt für die Erzeugung örtlicher Empfindungslosigkeit, am Auge empfohlen. Dieses Mittel ist das Cocain; dasselbe hat in kürzester Zeit einen wahren Siegeslauf bereits durch die ganze civilisirte Welt vollendet, und von allen Orten kommen mit Recht die übereinstimmenden Anerkennungen des großen Verdienstes, welches sich Koller erworben.

Das Cocain ist ein Alkaloid aus den Cocablättern. Die ersten Berichte über die Wirkung des Cocagenusses stammen aus dem 16. Jahrhundert; 1749 wurde die Pflanze nach Europa gebracht, von Jussien beschrieben und von Lamarck „Erythroxylon Coca“ genannt. Tschudi, Markham und andere Forscher, welche Südamerika bereisten, beobachteten, daß die eingeborenen Indianer Cocablätter kauten, wenn sie die Folgen harter Strapazen paralysiren wollten. Im Jahre 1859 stellte Niemann, ein Schüler Wöhler’s, aus den Blättern das Cocain dar, und schon 1862, also vor 22 Jahren, entdeckte Professor Schroff in Wien, daß dieses Cocain die merkwürdige Eigenschaft besitze, die Zunge unempfindlich zu machen, wenn man nur zwei Tropfen auf dieselbe brachte. Man versuchte das Mittel darauf bei vielen inneren Krankheiten, da es aber hierbei nicht viel leistete, gerieth es in Mißkredit und in völlige Vergessenheit.

Merkwürdig! Obgleich man wußte, daß die Schleimhaut der Zunge durch das Cocain gelähmt wird, dachte Niemand daran, das Mittel auf der Schleimhaut des Auges, der sogenannten Bindehaut (welche die Lider mit dem Augapfel verbindet), zu probiren. Koller jedoch ging von diesem überaus glücklichen Gedanken aus und sah seine Vermuthung durch Versuche an Thieren und Menschen aufs Glänzendste bestätigt.

Gießt man nur zwei Tropfen einer zweiprocentigen Lösung von salzsaurem Cocain, wie es Merck in Darmstadt zu dem allerdings noch sehr hohen Preise von 12 Mark pro Gramm fabricirt, einem Menschen ins Auge, was bei gutem Präparate gar keinen Schmerz verursacht, so wird schon nach einer oder spätestens zwei Minuten die Bindehaut und Hornhaut vollkommen empfindungslos, man kann sie mit Pincetten fassen, mit Messern schneiden, mit Nadeln kratzen und selbst mit Höllenstein tief ätzen, keine Spur von Schmerz!

Dieser Zustand dauert 10 bis 20 Minuten; dann kommt die Empfindung wieder. Nach etwa einer Viertelstunde wird die Pupille ein wenig größer, verengert sich aber wieder nach einer Stunde; dabei wird anfangs das Sehen in nächster Umgebung ein wenig erschwert, gelingt aber nach einer bis anderthalber Stunde wieder so bequem wie früher. Allgemeine Erscheinungen am Körper kommen absolut nicht vor, weder während der Einwirkung noch nach dem Ablauf der rein örtlichen Wirkung des Mittels. Die Patienten bleiben so munter, wie ohne Cocain. Alle diese Angaben, die Koller zuerst gemacht, können wir nach zahlreichen Operationen ebenso wie alle anderen Augenärzte nur vollkommen bestätigen. Obgleich schon eine ziemliche Litteratur in wenigen Wochen in Amerika und Europa über das Cocain entstanden ist, so ist doch eigentlich nichts wesentlich Anderes konstatirt worden, als was Koller schon gefunden.

Alle stimmen darin überein, daß eine neue Aera für die Operateure und Kranken eingetreten, da man das immerhin gefährliche und lästige Chloroform nicht mehr braucht, da der Muth auch der messerscheuesten Patienten erwacht, wenn sie nach einem Probetropfen Cocain bemerken, daß sie keine Spur von Empfindung am Auge haben, und da die Ruhe des Operateurs durch die Ruhe des Kranken noch mehr zunimmt. Alle betrachten das Mittel als einen geradezu unentbehrlichen Schatz in unserem Arzneimittelvorrathe, und kaum können wir uns mehr in die Zeit zurückdenken, wo wir das Cocain nicht hatten.

In vielen Fällen kann man jetzt ohne Assistenz operiren; denn der Kranke liegt vollkommen still. Wie häufig fliegen kleine Splitter, Staub-, Kalk-, Metalltheilchen ins Auge und keilen sich auf die Hornhaut fest. Ihre Entfernung war bisher stets eine recht schmerzhafte, jetzt wird sie bei Cocain im Moment bewerkstelligt. Staar-Operationen, Bildung künstlicher Pupillen, Tätowirung der Hornhaut, Operationen der Netzhautablösung, besonders aber Schiel-Operationen werden heute ausgeführt, ohne daß der Kranke festgehalten zu werden braucht, und ohne daß er einen irgend nennenswerthen Schmerz empfindet. Ich habe es erlebt, daß Kranke, nachdem die Operation beendet war, fragten, ob dieselbe nun nicht endlich bald beginnen werde.

Daß auch die Schleimhaut des Kehlkopfes, des Schlundes und andrer Körpertheile durch das Cocain unempfindlich wird, versteht sich von selbst, leider wirkt es auf die Haut nicht, daher auch nicht auf die Augenlider. Für die Augenkranken aber ist es der größte Segen, und unter den Männern, die sich wirklich „um die leidende Menschheit“ ein unsterbliches Verdienst erworben haben, wird der junge Dr. Koller in Wien stets einen hervorragenden Platz einnehmen.




Betrachtung eines französischen Reiseschriftstellers über Deutschland.

Monsieur Amic muß ein ganz besonderes Talent sein: er reist schnell, sieht schnell, beobachtet schnell und urtheilt schnell. Zwanzig Tage nur brauchte er, um Deutschland und einen Theil Oesterreichs zu bereisen, und zwar folgende Route zu machen: von Paris nach Straßburg, Heidelberg, Frankfurt am Main, Wiesbaden, Ems, Koblenz, zurück nach Frankfurt, Kassel, Leipzig, Berlin, Dresden, sächsische Schweiz, Prag, München, Innsbruck, Kufstein, zurück nach München, Nürnberg, Baireuth und von da über Metz zurück nach Paris. Das wäre nun an und für sich schon ein ganz erkleckliches Pensum für die kurze Zeit; erstaunen müssen wir aber, wenn wir hören, daß Herr Amic ein so geschickter Zeiteintheiler ist, daß er den hervorragenden Städten eine eingehende Betrachtung widmen, die Theater, Sammlungen und Galerien besichtigen, der Umgegend der verschiedenen Städte Besuche abstatten, Fußpartien machen, kleine Abenteuer erleben und dabei noch solch eingehende Beobachtungen machen konnte, daß er im Stande war, ein 386 Seiten dickes Buch über seine Reise zu schreiben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_068.jpg&oldid=- (Version vom 14.8.2020)