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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Ein sonderbarer Anklang in den Sitten der weltbeherrschenden Römer und der wilden Neu-Britannier!

Die Maskensammlung des Godeffroy-Museums ist eine sehr lehrreiche, denn die verschiedenen Masken, die im Laufe vieler Jahre gesammelt sind, beweisen, daß die Kunst der Schnitzerei bei den Eingeborenen abnimmt, bis zuletzt offenbar zum Verkauf gearbeitete Nachahmungen erscheinen, denen man es schon deutlich ansieht, daß sie mit den neu erworbenen eisernen Werkzeugen und nicht wie früher in jahrelanger geduldiger Arbeit mit Muschelmessern und Obsidiansplittern verfertigt sind.

Dasselbe gilt auch von den Waffen, namentlich von den hübschen Keulen von Viti (vergl. Kopfvignette); die älteren Stücke sind sorgfältiger gearbeitet und oft höchst geschmackvoll geschnitzt mit allerhand zierlichen Zeichnungen; man kann sich denken, welche Zeit oft gebraucht worden sein mag zur Herstellung solcher Waffen, die zumeist aus recht hartem Holz bestehen. Die Formen sind sehr verschieden; man hat sie stab- und ruderförmig etc., neuere Fabrikate erinnern an die Form der Muskete, indeß ist es nicht durchaus nothwendig, daß diese Form aus der neuesten Zeit sein müsse, man findet auch ältere Stücke mit dieser Form. Die in der Gruppe vorhandenen Lanzen kommen von den Neuhebriden; die zahlreichen Spitzen am Oberende von einigen derselben sind aus geschliffenen Arm und Beinknochen des Menschen hergestellt.

Ja, die Oceanier waren überhaupt Meister in allerlei Handarbeiten. Sie sind zwar in ihrem Schiffsbau auf jener primitiven Stufe der Kunstfertigkeit geblieben, die Noah bei der Sintfluth angewendet hatte, nur daß sie statt des Erdpechs Nußkerne als Kittmasse brauchen; aber sie können doch Kriegskanoes bauen, welche zwei- bis dreihundert Mann bequem fassen. Ein solches Kanoe stellt den Mittelpunkt der Kopfvignette dieses Artikels dar, auf welcher auch ein einfaches[WS 1] neu-britannisches Boot mit einem seltenen Anker sich befindet. Dieser Anker veranlaßt uns zu interessanten geschichtlichen Erinnerungen, denn einen ganz ähnlichen können wir im Museum zu Kalmar in Schweden sehen. Nur ist der letzte nicht unter den Palmen gefunden worden, sondern er ist ein Produkt nerviger nordischer Fäuste und mußte in grauen Vorzeiten ein Vikingerboot gegen die Fluthen der See festhalten.

Die kurzen Rückblicke auf römische Begräbnisse, Noah und die Vikinger mögen dem Leser beweisen, daß in der That die in der Südsee vorgenommenen Sammlungen für die Wissenschaft von hoher Bedeutung sind, und in ihm die Lust erwecken, später einmal Einiges über die naturwissenschaftliche Abtheilung des genannten Museums zu erfahren.


Das unterirdische Florenz.

Wieder soll ein lebendiges Stück Geschichte und Alterthum von der Erde verschwinden: dem Mercato Vecchio zu Florenz – dem Midollo[1] der Altstadt, Stammsitz und Wiege der alten florentinischen Herrlichkeit – hat das letzte Stündlein geschlagen. Bald wird die Piazza del Mercato mit ihrer schlanken Säule, die den Mittelpunkt der Stadt bedeuten sollte und dabei seltsamer Weise zum Schandpfahl diente, mit der originellen Fischhalle aus dem 16. Jahrhundert, mit den uralten Kirchlein Santa Maria in Campidoglio, San Pierino, San Tommaso und San Andrea, mit dem festungsartigen Palaste der Amieri und dem bescheidenen Stammhaus der Mediceer – das Alles wird nur noch der Erinnerung angehören. Das alte Viertel der Ghibellinen auf der einen und das der Guelfen auf der andern Seite, die beide nur durch diesen Platz geschieden waren, werden vielleicht an einem Tage in das Nichts zurücksinken und mit ihnen manches Unersetzliche – so der Thurm der Wollezunft mit seinem düstern, doch anheimelnden Eingang von Or San Michele her, der so trauliche Bilder des altbürgerlichen Lebens der Republik heraufzaubert.

Ich liebe diesen Platz, den die noch übrigen Thürme wie Veteranen umstehen, innerlich gebrochen doch aufrecht, und der zur Nachtzeit von den Geistern der Vergangenheit wimmelt. Dann steht die alte Beccheria[2] wieder vor der Phantasie, die wir noch in unsern Tagen gesehen haben mit dem seltsamen Kranz von Buden, der sie umgab; ein Wald von schlanken, himmelhohen Thürmen, von denen die Banner der Familien flattern, umkränzt die Piazza, verdunkelt den Hintergrund, füllt und verhüllt den ganzen Horizont. Von der Colonne läutet die Glocke zum Feierabend, in die offenen Kirchlein strömen die Weiber, Woll- und Seidehändler stehen plaudernd unter ihren Werkstätten und Gewölben, die Capitani delle Arti[3] ziehen mit ihren bunten Gonfalonen vorbei, Gassenjungen singen Spottlieder auf die eben geschlagene Partei, aber plötzlich ertönt Hufschlag auf dem Pflaster, aus einem der engen Quergäßchen sprengt ein in Eisen starrender Reiter hervor und durchbricht, die Sporen zum Insult nach auswärts gekehrt, die Menge – vielleicht ist es der schreckliche Corso Donati, Dante’s großer Feind, der lieber unter den Hufen des eigenen Pferdes sterben wollte, als schimpflich gefangen in die Vaterstadt zurückkehren, die so lange vor ihm gezittert hatte.

Aber ach, während wir dieser glorreichen Vision nachstarren, ruft uns ein trivialer Gedanke in die Gegenwart zurück, und wir greifen erschrocken nach Börse und Uhrkette, denn eine von den menschlichen Fledermäusen mit den lichtscheuen Augen, die diesen Ort mit den Gespenstern der Vorzeit theilen, ist in der Dunkelheit an uns vorübergestrichen. Dann erinnern wir uns, daß hier in dem Viereck, das den Kern der Stadt bildet und von den vornehmsten Straßen umschlossen ist, eine Welt lebt und webt, die mit der unserigen nichts gemein hat, die unsere Gesetze nicht anerkennt und jeden, der einen anständigen Rock und ganze Stiefeln trägt, als einen Feind und Fremdling betrachtet.

Wenn ein solcher „Fremdling“ sich auch bei hellem Tag in das Gewirr der Gäßchen auf dem Mercato verirrt, erregt er hier mehr Aufsehen als im kleinsten Apenninendorf. Aus dem alten Mauerwerk unter der Erde kriechen sie hervor, zerlumpte, kranke, verkrüppelte Gestalten, starren den Eindringling mit ihren rothen, halb erblindeten Augen an und geben auf seine Fragen keine Antwort. An allen Fenstern tauchen Gesichter auf und verschwinden, es ertönen Pfiffe und Signale, aus allen Mienen spricht Neugier und drohendes Mißtrauen, und wer sich nicht mit großem Muthe bewaffnet hat, tritt gern den Rückweg aus diesen Gäßchen an, die oft gar keinen Ausgang haben oder in eine Hausthür münden.

Wer aber wagte es die Häuser zu betreten, die oft noch mit dem stolzen Wappen der sechs Kugeln[4] oder mit wundervollen Steinfriesen geschmückt sind; aus denen ein fürchterlicher Geruch entgegendringt, wo bei jedem Schritt eine Fallthür hinter uns zufallen kann oder wo man vielleicht in eine Versenkung tritt, aus der man nie wieder an das Tageslicht zurückkehrt? Es sind Häuser, in die kein anderes menschliches Wesen den Fuß setzt, als die Polizei, zuweilen der Arzt oder die Brüder der Misericordia. Denn ihre traurigen Bewohner selbst können nicht mehr Menschen heißen.

In feuchten Spelunken geboren, aufgezogen in Schmutz und Laster, von Krankheiten zerfressen, wohnen sie zu acht bis zehn Personen jeden Alters und Geschlechts in einer einzigen Stube mit oft nur einem Bett, dessen Ausstattung vielleicht nie gewechselt worden ist, und wer diesen Aufenthalt mit einigen Jahren in den „Murate“[5] vertauschen kann, scheint seinen Gefährten beneidenswerth. Zuweilen, wo man sehr skrupulös ist, sind solche Kammern, in denen zwei Familien hausen, durch eine Scheidewand aus altem Zeitungspapier getrennt, und ein solches Kulturbestreben in einer solchen Umgebung wirkt noch grauenhafter als die völlig nackte Schamlosigkeit. Unter diesen Unglücklichen giebt es viele Grade und Abstufungen von dem bewußten jammervollen Elend bis zur stumpfsinnigen Verthierung.

Wie Dante’s Hölle ist dieser Ort der Verdammten in Kreise abgetheilt, die je eine Stufe menschlichen Verlorenseins bedeuten. Da ist die äußerste Peripherie, die schon an die reichen und vornehmen Stadttheile angrenzt, mit den unglücklichen Armen, die selber ehrlich und keines Verbrechens fähig sind, die aber um ihrer Sicherheit willen beide Augen zudrücken, den Dieben Unterschlupf gewähren und wohl auch vor Gericht für sie zeugen müssen. Dann kommen die Hehler, die den „Gewinst“ mit den Dieben theilen, und zuletzt die große Pflanzschule alles Lasters und Gräuels – der Ghetto.

Bis vor Kurzem waren diese Zustände nicht öffentlich bekannt. Man hörte wohl dann und wann, daß ein berüchtigter Verbrecher aus dem Gefängniß entkommen und im Mercato Vecchio verschwunden sei, man konnte in den Zeitungen lesen, daß Der und Jener, dem die Justiz auf den Fersen war, nicht handfest gemacht werden könne, weil er sich nach dem Ghetto gewandt habe und von der Camorra beschützt sei, aber wenn auch die Verbrechen und Mysterien des Mercato Vecchio die Spalten der städtischen Chronik und die Phantasie der Sensationsschriftsteller füllten, in das innerste Leben dieser fremden Welt inmitten der unsrigen war Niemand eingedrungen.

Da trat vor Kurzem ein unerschrockener Mann in einer Broschüre „Firenze sotterranea“ (das unterirdische Florenz) mit erschütternden Enthüllungen hervor und deckte Zustände auf, die man bis jetzt nur am Westende Londons für möglich gehalten.

Jarro – so nennt sich der Verfasser – hat Jahre seines Lebens darauf verwendet, diese Welt zu studiren, hat die Polizei auf ihren nächtlichen Streifzügen im Ghetto begleitet, hat mit einigen dieser Höhlenbewohner Freundschaft geschlossen, um ihre Lebensgeschichte kennen zu lernen, und hat verkleidet ihren Zusammenkünften beigewohnt.

Seine Enthüllungen haben solches Aufsehen erregt, daß das kleine Büchlein in kurzer Zeit mehrmals aufgelegt werden mußte und daß selbst die Alterthumsfreunde in Florenz nicht mehr laut gegen das Zerstörungswerk zu protestiren wagen, das zwar schon längst geplant war, das aber ohne dieses Büchlein wohl noch Jahr und Tag seiner Ausführung entgegen geschlummert hätte.

Ehe nun diese nächtliche Welt von der Erde verschwunden ist, begleiten wir Jarro auf einer seiner Wanderungen. Er führt uns durch die Vorstufen der Hölle hindurch in den Ghetto:

„Per me si va tra la perduta gente.“[6]

Auch hier standen einst Paläste der Großen, und eine elende Piazzetta, die jetzt in einen Hofraum eingeschlossen ist, führt noch den stolzen Namen Medici. Später wurden hier die Juden eingesperrt, die der Magistrat von Florenz berufen hatte, um dem Wucher der eigenen Mitbürger zu steuern – doch ward ihnen nicht allzu weich gebettet, und noch ist ein altes Dokument vorhanden, worin einer von ihnen „dem Papst zu Liebe und wegen anderer Verbrechen“ zum Tode verurtheilt wird.

Aber still! und folgen wir Jarro. Er führt uns durch dunkle Gänge, gewundene Treppen, Höfe und Terrassen, die von Dach zu Dach, von Keller zu Keller alle Häuser mit einander verbinden, durch Katakomben, in die nie das Tageslicht fällt und wo ein Mensch mit oder ohne seinen Willen auf immer verschwinden kann. Er läßt uns in die Diebsherbergen blicken, wo 15 bis 20 schmutzige Strohsäcke am Boden liegen und wo die Diebe für einen Soldo zu übernachten pflegen; er zeigt uns Frauen, die


  1. Das Mark – so genannt zur Zeit der Republik.
  2. Schlachthaus.
  3. Kapitäne der Zünfte, ein Magistrat.
  4. Wappen der Mediceer.
  5. Gefängnisse von Florenz.
  6. „Durch mich gelangt man zum verlornen Volke.“0 Dante.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: einaches
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 086. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_086.jpg&oldid=- (Version vom 12.3.2024)