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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

mein Urtheil appelliren. Aber erlauben mußt Du mir schon, daß ich bei Dir bleibe. Du darfst Nachts mit Deinen Schmerzen nicht allein sein. Ich stopfe Dir immer frische Pfeifen, lese vor und erzähle, bis Dir der Schlaf kommt.“

„Das wolltest Du, kleine Maus?“ rief er erfreut. „Ach ja, mir wär’s schon recht! Aber morgen ist ja Testamentseröffnung, da darfst Du nicht fehlen.“

„Ich werde den Onkel bitten, mir den Schlitten herauszuschicken –“

„Und der fürsorgliche Onkel wird pünktlich Sorge tragen,“ sagte der Landrath mit einer ironisch tiefen Verbeugung.

„Abgemacht!“ rief der Amtsrath. „Aber, Franziska, Du retirirst ja in halbem Sturmschritt nach der Thür! – Na ja, Du wirst für die da drüben –“ er hob die Hand in der Richtung des Prinzenhofes - „Deinen besten Staat angezogen haben, und der wird hier eingeräuchert. Ich hab’s freilich ein Bischen schlimm gemacht mit dem Qualmen und Dampfen -“

„Und mit was für einer Sorte!“ warf sie malitiös und naserümpfend ein und schüttelte an ihrer Seidenschleppe.

„Nun, nun, ich bitte mir’s aus. Es ist ein feines Kraut, ein kräftiges Kraut! Davon verstehst Du aber so wenig, wie ich von Deinem Peccothee, Fränzchen … Aber genire Dich nur nicht! Es prickelt Dir in Deinen kleinen Pedalen, so schnell wie möglich in die frische Luft zu kommen. Du hast mehr als Deine Schuldigkeit gethan, hast Dich in meine ‚verräucherte Spelunke‘ gewagt – wer mir das vor einer halben Stunde gesagt hätte! … Drum gieb Deiner kleinen Mama den Arm, Herbert, und bringe sie schleunigst und fein säuberlich in den Schlitten zurück.“

Er öffnete galant die Thür, und die alte Dame schlüpfte an ihm vorüber, beide Hände im Muff vergraben, und war gleich darauf im Dunkel jenseit der Hausthür verschwunden.

In diesem Augenblick bückte sich Margarete und nahm die Kamelie vom Boden auf, die Herbert beim Lüften seines Pelzes unbewußt abgestreift hatte. Stumm reichte sie ihm die Blume hin.

„Ah, beinahe wäre sie zertreten worden!“ sagte er bedauerlich und hielt die Kamelie prüfend in den Lampenschein. „Das hätte mir sehr leid gethan! Sie ist so schön, so frisch und strahlend wie die Geberin selbst – findest Du das nicht auch, Margarete?“

Sie wandte sich schweigend weg, nach dem Fenster, an welches die Großmama draußen ungeduldig klopfte, und er schob die rothe Blume, wie einst die weiße Rose, in seine Brusttasche und schüttelte seinem Vater zum Abschied die Hand – dann ging auch er.

(Fortsetzung folgt.)

Die Dynastie Naundorff.

Von Rudolf von Gottschall.

In den französischen Zeitungen las man neuerdings, daß die Legitimisten sich nach dem Tode des Grafen Chambord um die Prinzessin Amélie zu sammeln scheinen, und da diese Prinzessin in keinem Genealogischen Kalender der Welt zu finden ist, so werden viele deutsche Leser begierig sein, nähere Aufschlüsse über dieselbe zu erhalten.

In der That hat es mit dieser französischen Prinzessin eine merkwürdige Bewandtniß; sie ist die Tochter eines Uhrmachers, der einen deutschen Namen führt; aber dieser Uhrmacher selbst hat sich zeitlebens für den Dauphin von Frankreich, für den Sohn der Maria Antoinette und des Königs Ludwig XVI. gehalten, für jenen unglücklichen Ludwig XVII., der zur Zeit der großen Revolution vom Konvent und von der Kommune im Temple eingesperrt und mißhandelt wurde und, wie die allgemeine Annahme ist, in Folge der schlechten Pflege erkrankte und starb. Diese letzte Thatsache wird von den Prätendenten – denn es gab ihrer mehrere – und ihren Anhängern bestritten; Ludwig XVII. soll aus dem Temple entkommen sein. Unter den Pseudodauphins, welche Anspruch auf den Thron von Frankreich für sich und ihre Familie machen, nahm der Uhrmacher Naundorff durch die Unermüdlichkeit, womit er diesen Anspruch geltend machte, wohl den ersten Rang ein.

Der Lebenslauf jenes Pseudodauphins, dessen Herkunft keineswegs aufgeklärt ist und der daher, wie man auch über seine Berechtigung denken mag, immerhin eine geheimnißvolle Persönlichkeit bleibt, gehört zu den romanhaftesten, welche die neuere Geschichte kennt, nicht blos mit Bezug auf jenen zweifelhaften Theil seiner Biographie, den er selbst erzählt, sondern auch im Hinblick auf die Abenteuer, deren Held er wurde, seitdem er im Lichte der glaubwürdigen Geschichte wandelt.

In einem Memoire, welches Naundorff im Jahre 1836 von England aus veröffentlichte, erzählt er seine eigene Geschichte etwa in folgender Weise. Als Dauphin von Frankreich hat er mit dem König und der Königin und seiner Schwester jene erschütternden Ereignisse der Revolution durchgemacht, welche noch in seinen Kindheitserinnerungen lebendig sind. Auf der verhängnißvollen Fahrt von Versailles nach Paris hat sich folgendes Ereigniß seinem Gedächtniß dauernd eingeprägt. „Zwei Ungeheuer trugen auf der Spitze ihrer Piken zwei Menschenköpfe und marschirten so vor dem königlichen Wagen. Zwischen ihnen ging ein Mann von schrecklichem Aussehen; er hatte einen großen Bart und trug auf der Schulter ein blutiges Beil. Vor einer Boutique ließ man halten; die Bösewichter gingen hinein, und als sie bald darauf wieder herauskamen, waren die abgeschlagenen Köpfe gepudert. Einer von ihnen näherte sich uns und hielt mir den Kopf unter die Augen. Ich stand aufrecht an der Kutschenthür, und obwohl einer unserer Freunde sich an den Kutschenschlag gelehnt hatte, um den Pöbel von uns abzuhalten, so konnte er doch das Attentat nicht verhindern. Ich wurde so heftig erschreckt von diesem entsetzlichen Anblick, daß ich mich in den Schoß der Mutter stürzte, um mein Gesicht zu verbergen.“ Dann erzählt er von der Fahrt nach Varennes, daß er von seiner Mutter als Mädchen verkleidet worden, und giebt eine Menge genauer Details dieser Reise an: bei der Rückfahrt hätte Barnave ihn auf seinen Schoß genommen und sei sehr zärtlich gegen ihn gewesen; er berichtet ferner, daß in der Nacht zwischen dem 9. und 10. August die Königin Marie Antoinette in seinem Zimmer geschlafen habe, in dem Bette seiner Wärterin. Alle diese und andere Einzelheiten sind unkontrollirbar; die Einzige aber, die Naundorff aufruft, ein Zeugniß dafür abzulegen, die Herzogin von Angoulème, die Schwester des Dauphins, hat das Zeugniß stets verweigert und sich in Schweigen gehüllt.

Interessanter und eingehender werden die Mittheilungen des Memoires, wo es sich um die Gefangenschaft im Temple handelt. Naundorff giebt eine sehr genaue Beschreibung des Grundrisses, der einzelnen Stockwerke des alten Gebäudes, seiner Kabinette, Thürme und Thürmchen: sie entspricht vollkommen den Zeichnungen und Plänen, welche Chantelauze seinem soeben erschienenen großen Werke über Ludwig XVII. eingefügt hat. Doch konnte sich der Prätendent ja auch diese Zeichnungen verschafft haben. Wohl aber giebt er eine Menge Einzelheiten an, sowohl was die Lokalitäten als auch den intimen Verkehr der königlichen Familie betrifft, welche nur Jemand wissen konnte, der wirklich in jenem Gefängniß gelebt hat. Es wird erzählt, daß Naundorff in Paris, in Gegenwart mehrerer Zeugen, eine Unterhaltung mit einem Klempner Bulot hatte, welcher von 1792 bis 1797 die Lampen im Temple zu besorgen hatte, daß dieser, als das Gespräch auf das alte Gefängniß kam, einiges Detail über seine Räumlichkeiten anführte, welches vom Prätendenten in einer Weise berichtigt und ergänzt worden sei, daß dem alten Manne sich die Augen mit Thränen füllten und er ausrief: „Sie können nur der Sohn Ludwig’s XVI. sein.“ Auch ein im Jahre 1837 gerichtlich verhörter Greis Jean Baptiste Jerome Brémond erklärte, er glaube, daß der Prinz aus dem Temple entkommen, daß Naundorff der echte Prinz sei, besonders weil er den Versteck kennt, welchen sein Vater in den Tuilerien selbst angelegt hat und bei dessen Verschluß er allein mit demselben zugegen war. Auch hatte Ludwig XVI. selbst geäußert, daß diesen Versteck für Dokumente und Gelder nur sein Sohn kenne. Der Prinz besitze den Schlüssel, den der König selbst angefertigt. Brémond war von 1788 bis zum 10. August 1792 Geheim-Sekretär Ludwig’s XVI.

Doch wie entkam der Dauphin aus dem Temple? Diese Entführungsgeschichte ist überaus romanhaft. Die Anhänger des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_246.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2024)