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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Brockhaus’ Konversationslexikon.

Zur Charakteristik und Geschichte eines nützlichen Buches.
Von Karl Braun-Wiesbaden.
(Mit Abbildungen aus der im Erscheinen begriffenen 13. Auflage.)


Hermanns-Denkmal
(v. Bandel).

Auf wirthschaftlichem Gebiete hat sich die Arbeitstheilung schon lange vollzogen. Zur Freude der Einen, zum Aerger der Anderen. Besser aber, als sich zu freuen oder sich zu ärgern, ist es, diese Erscheinung der Kulturentwickelung zu begreifen.

Auf dem niedrigsten Standpunkte der Kultur war ein Jeder darauf angewiesen, alle seine Bedürfnisse selbst zu befriedigen, das ist, selbst Alles zu machen, was er bedurfte. Der Mann betrieb den Krieg und die Jagd, später auch Viehzucht und Ackerbau. Die Frau besorgte Küche und Kleidung. Sie spann, kochte und webte. Jeder war sein eigener Zimmermann und Maurer; sein eigener Schuster und Schneider. Dann kam der Tauschhandel und mit ihm die Arbeitstheilung. Jeder verfertigte Das, was er am besten und billigsten herstellen konnte, und tauschte es aus gegen die Erzeugnisse der Anderen. Endlich kam das Geld. Wer seine Waare auf den Markt brachte, der erhielt dafür nicht eine andere Waare, sondern Geld, das ist eine Anweisung, gegen welche er auf dem Markte andere beliebige Waaren von gleichem Werthe beziehen konnte. So wurden indirekt Waaren gegen Waaren, Dienstleistungen gegen Waaren und Dienste ausgetauscht gegen Dienste. Je mehr diese Entwickelung der Dinge von der Einzelwirthschaft zur Tauschwirthschaft, von dem Natural- zum Geldsystem vorschritt, desto mehr mußte sich die Theilung der Arbeit, die Differenzirung der Leistungen und der Geschäfte entwickeln. Es ließ sich freilich auch eine Möglichkeit voraussehen, daß hierbei der Mensch zu sehr Maschine werde, daß ihn irgend ein Theil zu sehr absorbire und aus dem Zusammenhange bringe. Allein diese Gefahr wurde abgewandt durch die Vereinigung der einzelnen Kräfte zu gemeinsamem Wirken, und so ergab sich denn als nächstes Ziel unserer Kulturentwickelung nicht nur die Theilung, sondern auch die Zusammenfassung, das ist

„Getheilte Geschäfte,
Vereinigte Kräfte.“

Sebaldusgrab zu Nürnberg (Vischer).

Auf geistigem Gebiete ist es ähnlich gegangen. Die Wissenschaft entwickelte sich in der Art, daß zunächst die Thatsachen ermittelt, geprüft und gesichtet werden müssen, und daß sich dann aus der so gewonnenen Kenntniß der Einzelheiten die Erkenntniß des Ganzen bildet, das ist die Erkenntniß der Gesetze, welche jene Einzelerscheinungen regieren. Das Werk der Forscher ist vereinzelt. Dann aber bedarf es einer Zusammenfassung, und endlich einer Form, welche Jedem zugänglich macht, was alle Einzelforscher ermittelt. Die alten Griechen und Römer, welche reicher an Weisheit waren, als an Wissen, erachteten gleichwohl die Zusammenfassung der einzelnen Kenntnisse und Kräfte für nöthig. Sie nannten den Inbegriff Dessen, was ein gebildeter und freier Mann wissen sollte, die encyklische Lehre, welche die sieben freien Künste umfaßte, nämlich Grammatik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie, Musik, Dialektik und Rhetorik, und Speusippos, ein Schüler des Plato, hat eine solche „Encyklopädie“ geschrieben; sie ist jedoch nicht auf uns gekommen.

Später brachte man die encyklopädischen Kenntnisse, um das Nachschlagen zu erleichtern, in Wörterbuchform. Das älteste und berühmteste dieser encyklopädischen Wörterbücher, oder – um in unserer heutigen Sprache zu sprechen, das älteste Konversationslexikon – datirt vom Ende des 10. Jahrhunderts. Sein Verfasser war ein gelehrter griechischer Grammatiker – heutzutage würden wir sagen: Philologe –, Namens Suidas, von dem wir wenig mehr wissen, als den Namen. Man glaubt gegenwärtig, dem alten Suidas entschieden kleine Verwechselungen und Schnitzer nachweisen zu können, und behauptet, er sei ein geistloser Kompilator gewesen. Aber man vergißt darüber, wie große Dienste er seinen Zeitgenossen geleistet hat und uns heute noch leistet. Sein in griechischer Sprache abgefaßtes encyklopädisches Wörterbuch – nein, wir können getrost „Konversationslexikon“ sagen – ist damals in den weitesten Kreisen der gebildeten Welt verbreitet gewesen und hat viel Nutzen gestiftet. Man hat es unzählige Male abgeschrieben und verbessert und vervollständigt oder, wie wir heute sagen würden: „bis zur Gegenwart fortgeführt“: neu herausgegeben, Auszüge und „Hand-Ausgaben“ in „Taschenformat“ – man verzeihe mir diese modernen Ausdrücke, aber ich kann doch für die „Gartenlaube“ nicht Griechisch schreiben – aus demselben gefertigt etc. Man sieht daraus, es entsprach einem offenbaren Bedürfnisse seiner Zeitgenossen, und in dieser Beziehung wenigstens kann man sagen: Was der Suidas für die gebildete Welt des 11. und 12. Jahrhunderts war, das ist der Brockhaus für die des 19., und wahrscheinlich nicht minder dereinst auch für die des 20. Jahrhunderts.

Kutab-Minar bei Delhi.

Für uns aber, für die Männer von Heute, hat der alte Suidas eine wissenschaftliche Bedeutung, die dem bescheidenen alten griechischen Philologen selbst wohl niemals zum Bewußtsein gekommen. Er war die fleißige Biene, die für uns den Honig gesammelt. Er hat Auszüge aus allen möglichen Schriftstellern gemacht, die nicht bis auf uns gekommen, und hat uns so über fast alle Gebiete der alten Kultur die schätzenswerthesten Notizen erhalten, ohne welche wir in gänzlicher Finsterniß herumtappen würden.

Petroleumbratmaschine.

Ich beschränke mich auf diese kleine geschichtliche Notiz und will dem geneigten Leser den weiten Weg ersparen durch all die zahlreichen theils systematischen und theils lexikalischen Encyklopädien vom 11. bis zum 18. Jahrhundert. In der Mitte dieses letztgenannten Jahrhunderts erhebt sich als ein Rocher de bronze, als ein mächtiges weltgeschichtliches Gebäude das ebenfalls in alphabetischer Ordnung abgefaßte Sammelwerk, das Diderot und d’Alembert unter dem Titel „Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et metiers“ zuerst in Paris in der Zeit von 1751 bis 1772 in 28 Foliobänden, von welchen 11 Kupfer enthalten, herausgegeben, und das von da an unzählige Male neu aufgelegt, nachgedruckt und ganz oder in Auszügen neu herausgegeben worden. Es war die Blüthe der geistigen Bewegung seiner Zeit, das Zusammenfassen der von tausend Punkten der Peripherie aus begonnenen Bewegung des „philosophischen Jahrhunderts“ in ein schier unüberwindlich erscheinendes centrales Gesammtbild dieses 18. Jahrhunderts, das berufen war, die Niederschläge und Trümmer des gesunkenen Mittelalters wegzuräumen und an die Stelle des Absolutismus, der bisher zwar auch an dieser Aufgabe gearbeitet hatte, aber nur um die Menschheit statt in feudal-klerikale in despotische Bande zu schlagen, um an die Stelle dieses Absolutismus die Grundlagen einer neuen menschlich freien Zeit zu setzen. Auch das Brockhaus’sche Konversationslexikon ist, wenn man es rückwärts bis in seine ersten Anfänge verfolgt, ein Werk des 18. Jahrhunderts.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_270.jpg&oldid=- (Version vom 24.9.2020)