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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

aufbewahrt, die Kanne, daß sie ihn ausgießen will, das Weinglas, daß es dem Schlürfen des Rebensaftes, das Bierglas, daß es dem reichlichern Trinken derberen Stoffes, dient.

Thun sie das, so sind diese Dinge stilgemäß, und was ihre Form sagt, ist wahr.

Stillos dagegen ist das Gefäß, das aus Thon besteht und doch in seiner Form den Charakter des Glases zeigt, oder aus Glas und doch die Form nachahmt, die der Natur des Thons entspricht. Stillos ist eine Porcellanschale, die nach Form und Farbe Holz nachmacht oder Korbgeflecht, stillos ein goldenes Armband, das einem in Gold verzauberten Lederriemen gleicht. Alle solche Dinge geben vor, etwas zu sein, was sie nicht sind – sie lügen. Am läppischsten aber lügen im Kunstgewerbe jene Produkte, deren Schöpfer sich womöglich einbilden, es am wenigsten zu thun: die sogenannten „naturalistischen“. Da sehen wir eine Schale aus Porcellan – aber nein, es ist ein riesiges Baumblatt, auf jedes Ritzchen und Riefchen genau nachgebildet. Aber das Ding soll doch nun einmal nicht die Nachbildung eines Blattes sein, sondern eine, zum bestimmten Gebrauch, dienende, Schale. Es als solche auszubilden, forderte deßhalb gerade die Natur der Sache, nicht aber über der Nachahmung eines fremden das eigene Wesen des Gegenstandes zu vergessen.

Doch nicht nur das Ganze soll sagen, was es ist und will, auch seine Theile sollen es. Haben wir eine Lampe vor uns, so wollen wir nicht nur aus ihrer Form als Ganzem ersehen, daß sie eine Lampe ist, nicht etwa – wie das freilich noch immer bei den meisten der Fall scheint – eine zum Brennen zugerichtete Vase oder gar einen Krug. Wir wollen auch deutlich den Fuß als fest zum Stehen bestimmten Fuß erkennen, den Griff als Griff, den Ballon als Ballon, den Brenner als Brenner.

Und auch der Schmuck muß unserer Forderung genügen, um wahrhaft stil- und somit sinngemäß zu werden. Ein Tischfuß, der als Kopf geschnitzt, ist ein Unsinn, denn auf dem Kopf steht nur der Narr. Ein Bild, das einen Teller ununterbrochen überzieht, ist stillos, weil es die Bedeutung des Randes am Geschirr verwischt; ein Ornament, das eben diesen Rand begleitet, stilrein, weil es ihn hervorhebt als den Theil, der von der Speise freibleiben soll. Nie darf dabei vergessen werden, welches unser Material. Soll Schmuck und Geschmücktes zur Einheit verschmelzen, so muß auch der Schmuck mit des Gefäßes Stoff verwandt erscheinen. Was bietet uns zum Ornament reichere und schönere Vorbilder, als Pflanzen- und Thierwelt? Aber nur so dürfen wir sie verwenden, daß wir den Typus, der in ihnen liegt, vom Stoff der Natur auf unsern Stoff übertragen, indem wir z. B. dem Typus des in Gold übertragenen Pflanzenbildes den Charakter zu geben suchen, der dem goldenen Metalle eigen. Auch dieses „Stilisiren der Natur“ ist nur eine Forderung innerer Wahrheit.

Der Widerspruch zwischen Form und Inhalt kann zwar in einigen Fällen künstlerisch berechtigt sein: dänn, wenn er witzig ist. Aber alsdann will er auch, nicht lügen; im Kontraste tritt er vielmehr gerade scharf hervor und weist darauf hin – und darin liegt ja eben der Witz – daß er nicht das ist, was er zu sein vorgiebt. Für witzig in solcher Art mögen zur Noth die jetzt so beliebten Bierkrüge in Gestalt eines Mönchs hingehen, aus dessen Schmeerbauch man trinkt; wenngleich der „Witz“ dabei jedenfalls weder fein noch geistreich ist. Ist’s aber witzig, wenn ein Aschenbecher die Gestalt eines Menschengesichts in vertiefter Arbeit zeigt? Und doch kenn’ ich einen, der nicht etwa eine architektonische Maske, der ein leibhaftig ähnliches Portrait eines berühmten Mannes darstellt, dem sein Verehrer vermittelst Abstäubens der Cigarre aufs Angesicht seine Huldigung darzubringen glaubt. Ist das viel besser, als die schönen Taschentücher von ehedem, mit welchen sich der patriotische Bürger ehrfurchtsvoll in seines Landesherrn aufgedrucktes Bildniß schnäuzte? Doch selbst ein Gefäß, das eine wirklich witzige Idee zum Ausdruck bringt, erregt durch den häufigen Anblick im täglichen Gebrauche leicht Ueberdruß. Wir werden eben schließlich auch des guten Witzes satt, wird er durch stetes Wiedererzählen abgehetzt.

Mit unseren Betrachtungen über den Stil haben wir schon einige Blicke ins Mode-Unglück geworfen. Der antike, gothische, Renaissance-, der „altdeutsche“ Stil spukt jetzt in allen Gesprächen – vom Stil schlechthin wissen die Wenigsten etwas. Und doch kommt alles in erster Linie auf ihn an, denn der Stil schuf sich die Stile. Und das ging so zu.

Die Verhältnisse, die über einem Volk in bestimmtem Zeitalter walten, gestalten sich ihre eigene Formensprache nicht minder, als ihre eigesie Wortsprache. Die Durchgeistigung eines Gegenstandes, daß er zu uns von seinem Sein und Sollen spricht – der Stil im allgemeinen Sinne – ward von allen natürlich empfindenden Künstvölkern aller Zeiten erstrebt, aber jedes wollte ihn zu sich sprechen sehen in der gerade ihm vertrauten Formensprache. Die antike Welt mit ihrem Schönheitssinn, mit ihrer heitern Vielgötterei, mit ihrem ganz andersartigen Leben als dem unseren, lehrte die kleine Welt ihrer Umgebung so zu reden, wie sie am liebsten sie sprechen hörte; das gothische Mittelalter, dessen ganzes Sein unter dem Banne kirchlicher Frömmigkeit athmete, wollte in seiner Formensprache auch dann religiöse Anklänge nicht missen, wenn nur vom Leben der Häuslichkeit zu erzählen war; die Renaissance mit ihrer Schönheitsfreude, ihrem versteckten Heidenthum, ihrer glühenden Bewunderung der Alten ließ wiederum Alles, was sie beseelte, in ihrem eigenen, durch alles das beeinflußten Idiome reden. Aber immer, wo wir echten Stil finden, war nur die Sprache verschieden, in der gesprochen wurde, nur die Formen des Ausdrucks wechselten nach dem Geiste der Zeit: das, was ein Geräth sagte, war stets dasselbe: dies bin ich und dies soll ich!

So liegt denn dort die Achillesferse unseres heutigen Kunstgewerbes, wo es dies Allgemeine vergißt, wo es die historischen Stile pflegt, ohne den großen einen Stil, wo es die Söhne verhimmelt, ohne sich viel um den Vater zu kümmern.

(Schluß folgt.)

„Die Gesellschaft der Waisenfreunde.“

Am 15. März 1884 wurde in Leipzig der Verein gegründet, welcher den obigen Namen annahm und dessen Programm wir in demselben Jahrgang der „Gartenlaube“ S. 323 unseren Lesern mitgetheilt haben.

Der Gedanke, welcher die Gründung dieser Gesellschaft ins Leben rief, spricht von selbst zum Herzen jedes Kinder- und jedes Volksfreundes, und wir haben in dem Vertrauen auf die Wirksamkeit desselben uns nicht getäuscht; dennoch aber halten wir, nach den in dieser Zeit gesammelten Erfahrungen, die erneute Erinnerung an das Unternehmen und eine lebhaftere Nachhilfe für dasselbe durch die Presse für nothwendig und verbinden diese heute mit der Einladung zur ersten Generalversammlung des Vereins.[1]

Der Gedanke brachte nichts Neues auf die Welt; für die Annahme an Kindesstatt (Adoption) bestehen längst gesetzliche Bestimmungen. Was neu an der Sache ist, gehört dem Bestreben der Gegenwart an: Denn, was früher vereinzelt geschah, durch gesellschaftliche Thätigkeit größere Verbreitung zu verschaffen. – Unsere Zeit hat neben ihrem strahlenden Licht auch die entsprechenden Schatten, und hier nimmt die Verrohung, welche man in gewissen Schichten der Bevölkerung zu beklagen hat, eine wichtige Stelle ein. Sie lenkt von selbst den Blick auf die Kinder der Armuth und wirft die Frage auf: Wie ist da zu helfen? Die Wahrnehmung ist so allgemein, daß sie längst die öffentliche Sorge in Anspruch nimmt und daß die verschiedensten Mittel angewandt werden, dem Unheil Einhalt zu thun und für seine Beseitigung zu wirken. Auch das Bestreben der „Waisenfreunde“ will nicht mehr und nicht weniger, als dazu ein Mittel in kräftigere Thätigkeit versetzen, als bisher geschah, ausgehend von der Ueberzeugung, daß durch Aufnahme in wohlhabende Familien Tausende von armen, verlassenen Kindern vor dem Versinken in Verkommenheit und Entartung gerettet werden könnten.

Man wird uns einwenden, daß vom Staat und von den Gemeinden durch Waisenhäuser für den beklagenswerthesten Theil der Kinder gesorgt werde. Wir wollen kein Wort gegen das Walten guter Waisenhäuser einwenden, obwohl wir die Erziehung

  1. Dieselbe soll am 10.Mai 11 Uhr im Saale der Loge „Apollo“ zu Leipzig stattfinden.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_279.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2024)